In Unternehmen und Wirtschaft wird mit dem Schlagwort Digitale Transformation in der Regel die digitale Gestaltung von Geschäftsprozessen und der Auf- und Ausbau einer digitalen Infrastruktur verbunden. Doch es geht um weit mehr als eine betriebswirtschaftlich-technische Anwendung und Optimierung von Prozessen. Digitale Transformation bezeichnet vor allem einen gesellschaftlichen Wandel, der eine andere, neue Qualität des Digitalen mit sich bringt, einen Wandel, der unser soziales Miteinander verändert und der die Verantwortung von Unternehmen herausfordert. Corporate Digital Responsibility kann dabei eine bedeutende Rolle spielen.
Von Matthias Schmidt
In der Soziologie sowie im Diskurs um eine nachhaltige Entwicklung unserer Umwelt und Gesellschaft ist die Idee einer „Großen Transformation“ lange bekannt. Unter Transformation kann man allgemein einen Umbruch verstehen, der bestehende Gesellschaftsverhältnisse von Grund auf verändert und neu definiert. Als Beispiel sei der Übergang von der Agrarwirtschaft zur Marktwirtschaft mit all seinen Veränderungen unseres Wirtschaftens und Zusammenlebens genannt. In seinem gleichnamigen Buch analysiert der Wirtschaftssoziloge Karl Polanyi bereits 1944 diese Veränderungsdynamiken und prägt den Begriff „The Great Transformation“, der bis heute immer wieder aufgegriffen und inhaltlich gefüllt wird (vgl. Polanyi 1973).
Digitale Transformation
In einer aktuellen Version kann man unter der Großen Transformation ein „identitätsstiftendes transdisziplinäres Narrativ […]“ verstehen. Das bedeutet eine sinnstiftende Erzählung, die in einer Gesellschaft kursiert und fortgesponnen wird und die „[…] ökologische, technologische, ökonomische, sozial- und kulturwissenschaftliche Erkenntnisse zu einem Hoffnung gebenden Gestaltungsprogramm“ verdichtet (Schneidewind 2019: 10).
Es spricht einiges dafür, dass wir auch hinsichtlich der Digitalität von einer großen gesellschaftlichen Veränderung, einer Digitalen Transformation, sprechen können. Denn eine Technologie muss an bestehende Strukturen anschlussfähig sein, um sich durchsetzen und Nutzen stiften zu können. Sonst verpufft sie leicht als gute Idee zur falschen Zeit. Die Digitalisierung muss nicht nur technologisch, sondern auch gesellschaftlich auf die Zeit passen. Nicht zuletzt kann es sinnvoll sein, den Blickwinkel zu ändern und zu fragen, für welches gesellschaftliche Problem die Digitalisierung die Lösung ist (vgl. Nassehi 2019: 28ff).
Mit Blick auf Big Data, die Allgegenwart (Ubiquität) digitaler Technologien – global und in Echtzeit – sowie auf die Datensouveränität der Bürgerinnenund Bürger ist eine untrennbare Verwobenheit von Digitalisierung, Mensch und Organisation und zu erwarten. Dazu kommen algorithmische Verstärkungen von Denk- und Verhaltensmustern mit konkreten Auswirkungen für Menschen und Unternehmen. Man denke etwa an die Algorithmen von Suchmaschinen und die daraus entstehenden Filterblasen der Nutzerinnen und Nutzer, die auf Kaufentscheidungen und mithin auf Konsumangebote von Unternehmen einwirken.
Drastisch können solche Verstärkungen in der aktuellen Pandemielage werden, etwa dann, wenn sich Coronaleugnende in den Echoräumen ihrer digitalen Welt algorithmisch bestätigen lassen und durch entsprechend sorgloses Verhalten in der echten Welt die Verbreitung des Virus begünstigen und so der Gesellschaft schaden.
Es wird zu klären sein, wie wir als Individuen und wie Organisationen unter den Bedingungen, die die digitale Gesellschaft mit sich bringt, verantwortlich handeln und zugleich deren Bedingungen verantwortungsbewusst mitgestalten können (vgl. Schmidt 2018). Zwar ist die Digitalisierung von der Grundidee her zunächst nur eine binäre Codierung von Phänomenen in der echten Welt. Die datafizierten Phänomene sollen als Daten miteinander verknüpft und – bis hin zur Vorhersage der Zukunft – berechenbar gemacht werden und so dem Menschen nutzen und dienen (vgl. Wiegerling 2020: 95). Doch in der Folge entsteht aus Big Data, aus der Quantifizierung der Welt, auch eine neue Qualität. Es findet eine Transformation statt.
Die Ursache dafür liegt in der Rückkopplung von Big Data mit sich selbst und der Welt. Denn die geschaffenen Daten, die digital codierten Erkenntnisse und Muster aus der echten Welt, können zugleich auch wieder Voraussetzung für neue Berechnungen in der virtuellen Welt werden. Aus diesen Voraussetzungen in der digitalen Welt können wiederum Strukturen entstehen, die in der analogen Welt wirksam werden und diese qualitativ verändern (vgl. Nassehi 2019: 34). Im Extremfall könnte eine entkoppelte digitale Welt die reale Welt in ihren Strukturen und Möglichkeiten sogar faktisch determinieren. Es ist die Art und Weise, mit der das Digitale unsere Gesellschaft und unser Denken und Verhalten durchdringt und – mehr oder weniger bewusst – verändert. Dem Digitalen wohnt eine gesellschaftsverändernde, transformative Kraft inne, die mit einem Wandel in vielen Bereichen einhergeht.
Rückgekoppeltheit, Ubiquität und Echtzeit. Das dürften die drei Wesensmerkmale des Digitalen sein, mit denen der gesellschaftlichen Wandel beschleunigt und potenziert wird, weit mehr als die traditionellen Transformationstreiber wie etwa der Klimawandel oder die Wandlung eines Wirtschaftssystems es vermochten. Die Große Transformation kann als Digitale Transformation verstanden werden, die die zahlreichen Transformationsbereiche unter den Bedingungen des Digitalen verändert. Dass sich solche komplexen Wirkzusammenhänge mit ihren unvorhersehbaren Eigendynamiken und entfesselten Kräften unseren Steuerungsversuchen widersetzen (vgl. Rödder 2015: 18f.) oder gar entziehen, ist Erkenntnis und Aufforderung für Mensch und Organisation zugleich.
Corporate Digital Responsibility
In jüngster Zeit hat sich eine Vorstellung von Corporate Digital Responsibility (CDR) entwickelt. Damit soll der Tatsache Rechnung getragen werden, dass Unternehmen auch in Sachen Digitalisierung eine Verantwortung haben. Ohnehin kann man Unternehmen als Treiber der Digitalisierung ausmachen, entwickeln sie doch die digitalen Technologien weiter und bringen digitale Produkte und Leistungen auf den Markt.
CDR lehnt sich an das bekannte Kürzel „CSR“ (Corporate Social Responsibility) an, unter dem eine umfassende, über die ökonomische Dimension hinausgehende gesellschaftliche Verantwortung von Unternehmen zu verstehen ist.
Dass es sich bei CDR um ein junges Konzept handelt, das weit mehr ist als eine weiteres Management-Schlagwort und zunehmend an Bedeutung gewinnt, bestätigt und fördert das Bundesministerium für Arbeit und Soziales im Rahmen seiner Initiative CSR – Made in Germany: „Immer mehr Unternehmen verfügen über Konzepte im Bereich Digitalisierung, die den verantwortungsvollen Umgang mit natürlichen Ressourcen, aber auch mit Anspruchsgruppen, wie etwa Mitarbeitern und Lieferanten, festlegen. Das Bundesministerium für Arbeit und Soziales hat aus diesem Grund bei der Verleihung des CSR-Preises 2020 eine eigene Kategorie zu CSR und Digitalisierung geschaffen, um Unternehmen für ihr vorbildliches Engagement in diesem Bereich auszuzeichnen.“ (BMAS o.J.) Und bereits im Jahr 2018 hat das Bundesministerium für Justiz und Verbraucherschutz die „Corporate Digital Responsibility – Initiative“ ins Leben gerufen (vgl. BMJV 2019).
Es gibt wenig Gründe, weshalb sich CDR nicht als feststehende Begrifflichkeit, ähnlich der CSR, etablieren sollte, und sich nicht auch rasch mit konkreten und ausdifferenzierenden Inhalten füllen sollte. Die zu erwartenden gesellschaftlichen Umbrüche und ein verantwortlicher Umgang mit Big Data und digitalen Technologien werden zu einer großen Herausforderung für die (digitale) Gesellschaft (vgl. Kolany-Raiser et al 2019). Die Herausforderungen, die die Digitalisierung an Mensch und Organisation stellt, sind so vielfältig wie ihre Anwendungsbereiche. Wenn man weiter davon ausgeht, dass die Digitalisierung alle Bereiche unseres Lebens durchdringen wird und wir derzeit noch am Anfang dieser Digitalen Transformation stehen, dann wird die Digitalisierung allgegenwärtig, also ubiquitär. Damit gehen die Herausforderungen nahezu ins Unendliche und betreffen nicht nur die technische Seite, sondern vor allem auch die gesellschaftsformende Kraft, die dem Phänomen der Digitalisierung innewohnt (vgl. Schmidt 2018).
Die Digitale Transformation erfordert ein auf sie passendes Verständnis von Verantwortung, um die entfesselten, beschleunigten Kräfte der Digitalisierung so gut es geht zu kanalisieren und produktiv nicht nur für die Wirtschaft, sondern insbesondere für die Gesellschaft zu nutzen. Es wird an der Entwicklung und Umsetzung einer adäquaten Corporate Digital Responsibility liegen, inwieweit Organisationen konstruktiv und verantwortungsvoll an der Gestaltung neuer gesellschaftlicher, ökologischer und wirtschaftlicher Strukturen mitwirken können (vgl. Dabrock 2020). Hier spannt sich der Bogen von der CDR zur CSR – mit all ihren konzeptionellen und operativen Abzweigungen. Aus Sicht der Digitalen Transformation und der mit ihr verbundenen CDR stellt sich die Frage, wie CSR unter den Bedingungen der Digitalität gefasst und realisiert werden kann.
Prof. Dr. Matthias Schmidt
ist Professor für Unternehmensführung/Unternehmensethik an der (bis 30.9.2021 gültiger Name: Beuth Hochschule). In Forschung, Lehre und Beratung befasst er sich mit den Fragen einer gesellschaftsbezogenen und verantwortungsbewussten Unternehmensführung und -entwicklung. mschmidt@bht-berlin.de
Literatur
BMAS – Bundesministerium für Arbeit und Soziales (o. Jg.): Mehr Sicherheit und Effizienz durch nachhaltiges IT-Management, https://www.csr-in-deutschland.de/DE/Unternehmen/Unternehmensbereiche/IT-und-Datenverarbeitung/it-und-datenverarbeitung.html, letzter Abruf am 23.01.2021.
BMJV – Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz (2019): Die Corporate Digital Responsibility-Initiative, https://www.bmjv.de/SharedDocs/Artikel/DE/2019/051619_CDR_Bruessel.html, letzter Abruf am 23.02.2021.
Dabrock, Peter (2020): Gelebtes Commitment – Vertrauen und Datensouveränität als Kompass europäischer Corporate Digital Responsibility-Ansätze, in: Corporate Digital Responsibility Online Magazin vom 30.09.2020, https://corporate-digital-responsibility.de/article/kolumne-peter-dabrock, letzter Abruf am 23.01.2021.
Kolany-Raiser, Barbara/ Heil, Reinhard/ Orwat, Carsten/ Hoeren, Thomas (2019) (Hrsg.): Big Data. Gesellschaftliche Herausforderungen und rechtliche Lösungen, in: Hoeren, Thomas et al (Hrsg.): Schriftenreihe Information und Recht, C.H. Beck Verlag München 2019.
Nassehi, Armin (2019): Muster. Theorie der digitalen Gesellschaft, C.H. Beck Verlag München.
Polanyi, Karl (1973): The Great Transformation: Politische und ökonomische Ursprünge von Gesellschaften und Wirtschaftssystemen, Suhrkamp Taschenbuch, Insel Verlag Frankfurt am Main.
Rödder, Andreas (2015): 21.0. Eine kurze Geschichte der Gegenwart. C.H. Beck Verlag München.
Schmidt, Matthias (2018): CSRcamp 18 – Barcamp zum Thema Corporate Social Responsibility, in: Forum Wirtschaftsethik, https://www.forum-wirtschaftsethik.de/csrcamp-18-barcamp-zum-thema-corporate-social-responsibility, letzter Abruf am 23.01.2021.
Schneidewind, Uwe (2019): Die Große Transformation. Eine Einführung in die Kunst des gesellschaftlichen Wandels, 3. Aufl., in der Reihe Entwürfe für eine Welt mit Zukunft, hrsg. v. Harald Welzer und Klaus Wiegandt, Fischer Verlag Frankfurt am Main.
Wiegerling, Klaus (2020): Entgeschichtlichung und Digitalisierung, in: Koziol, Klaus (Hrsg.): Entwirklichung der Wirklichkeit. In der Reihe Mensch und Digitalisierung, hrsg. v. der Medienstiftung der Diözese Rottenburg-Stuttgart, Band 3, kopaed Verlag München, 85-119.
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