Von Harald J. Bolsinger
Für jeden ist zwischenzeitlich erkennbar geworden, dass wir uns einer ethisch und kulturell viergeteilten Digitalisierung gegenüber sehen: Amerika mit äußerst geringster Regulierungstiefe aber einer von Geheimdiensten unterwanderten Pseudofreiheit; China mit der klaren Strategie, Digitalisierung zur politischen Programmierung seines Volkes einzusetzen als Vorbild für weitere totalitäre Staaten; viele von der Digitalisierung weitestgehend abgehängte Entwicklungsländer vor allem in Afrika und inmitten von all dem Europa mit einem eigenen, erst am Anfang stehenden Weg, Digitalisierung grundrechtsbezogen aktiv zu gestalten.
Das vernetzte Internet of Things mit laufend schneller übertragbaren mobilen Daten, Smartphones, Wearables, assistiertem oder gar autonomem Fahren und weiteren Innovationen ermöglicht neue Geschäftsmodelle, die alte Wirtschaftsstrukturen ersetzen werden und Gesellschaft verändern. Gleiches gilt für künstliche Intelligenz und alle Spielarten, diese zu erzeugen und einzusetzen. Hinzu kommen Augmented und Virtual Reality-Anwendungen, Kryptowährungen und sämtliche Formen, diese zu erzeugen – etwa mittels der Blockchaintechnologie.
An das historisch betrachtet eigentlich noch junge Internet haben wir uns längst weltweit gewöhnt – genau so wie an die Skalen- und Netzwerkeffekte der dadurch erst effizient möglich gewordenen Plattformökonomik, die bereits wesentliche Errungenschaften der Sozialen Marktwirtschaft in Frage stellt und Innovation durch kleinteiligen Wettbewerb mit Skaleneffekten und Wachstumsgeschwindigkeit verdrängt. Längst lautet die Standard Exit-Strategie technologiebasierter Startups „Alphabet, Apple, Facebook, Microsoft oder wer auch immer die Markmacht besitzt: Kauft mich auf!“
Basistechnologie ist hierbei nicht das Internet selbst, sondern die dadurch ermöglichte Datensammelei und -verarbeitung in unvorstellbarem Ausmaß in Form von Big Data. Nur die ganz besonderen Anwendungsformen der Digitalisierung in Nanotechnologie und Biotechnologie sind in der populärwissenschaftlichen Tagespresse noch unterepräsentiert.
Intelligente und autonome Robotik vereinzelt ergänzt durch 3D-Druck wird stärkt diskutiert und derzeit vor allem im Wissenschaftsbereich durch neue Professuren und Studiengänge massiv gefördert. In der Wirtschaft werden die Chancen durch die Digitalisierung gepriesen: mehr, schneller, besser, effizienter, ertragreicher! Ein Heilsversprechen jagt das andere und zahlreiche Warnungen werden mit starker Lobby platzier: Dass „wir“ schneller machen müssen, bevor „die anderen“ die neuen Datenmärkte unter sich aufteilen. Evangelizing in seiner reinsten Form – oft gepaart mit der Ablehnung auch nur der geringsten Regulierung und Einhegung der neuen unbegrenzten Möglichkeiten.
Zukunft gestalten – drei Schritte vor und einen zurück?!
Vor dem Hintergrund all dieser Entwicklungen wird die Stimme nach einer „Digitalen Ethik“ laut und steht voll im Trend. Eine ethische Rauchbombe nach der anderen wird geworfen, indem von mit Ethik oft unbewanderten Evangelizern Diskussionen in kleinen Digitalisierungsteilbereichen eröffnet werden, die vom ethischen Kern ablenken. Vieles geschieht unbewusst, doch hinter manchen Diskussionen steckt auch gezielte Lobbyarbeit.
Wen soll das autonome Auto im Zweifelsfall umfahren – die spielenden Kinder oder die alte Frau mit Rollator? Unsere Gesellschaft lässt sich teilweise auf solche Diskussionen ernsthaft ein, ohne zu erkennen, welche Menschenverachtung bereits in Fragen wie dieser steckt. Wie würde die Diskussion verlaufen, wenn die Frage gestellt würde: Wen soll das Auto im Zweifelsfall umfahren – den Mann mit Mönchskutte oder die Frau mit Tschador? Längst etablierte normative Errungenschaften der Neuzeit werden damit der scheinbaren Neuverhandlung anheim gegeben, obwohl der ethische Kern äußerst einfach und bereits Allgemeingut ist.
Wir sind eine globale Gemeinschaft, welche die Segnungen einer Menschenrechtscharta genießt, auch wenn diese noch nicht weltweit in allen Punkten anerkannt wird. Der normative Grundrahmen steht aber bereits – wir brauchen nicht mehr darüber diskutieren, wer eher bei einem Unfall sterben soll, oder anders formuliert welche Menschengruppen von Technologie aktiv mit Todesfolge diskriminiert werden sollen und welche nicht. Eine derartige Diskussion blendet aus, dass jeder Mensch ein Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit hat – unabhängig von Alter, Geschlecht, Rasse, Weltanschauung, sexueller Orientierung oder weiterer Merkmale. Wenn wir das ernst nehmen, kommen wir zu den wirklich wichtigen Fragen der Digitalisierung und neuer Technologien – hier z.B. wie ein geschlossenes möglichst sicheres System autonomer Fahrzeuge geschaffen werden kann, bei dem nicht isolierte autonome Fahrzeuge im öffentlichen Raum durch ihre Technologie Dritte in Gefahr bringen können.
Ethik ist nie digital
Das obige Beispiel ist ein Typisches. Zeigt es doch auf, dass Ethik nie digital ist, sondern Grauzonen beleuchtet und ein kontextbezogenes Urteil zu fällen versucht, was gut und was schlecht ist, was richtig und falsch ist. Es gibt eine Ethik der Digitalisierung oder eine Digitalisierungsethik vor dem Hintergrund bereits existierender Normen – aber keine digitale Ethik – noch dazu eine neue Ethik. Der normative Rahmen für unsere Digitalisierungsethik ist schon lange vorhanden – des Fußes Leuchte, um Licht ins Dunkel für gesellschaftspolitische Diskussionen zu bringen, ist ein diesem normativen Rahmen entnommenes Wertesystem für den konkreten Anwendungsfall.
Welche Werte für Anwendungen der Digitalisierung besonders wichtig sind, ist immer mit zu prüfen und mit zu besprechen. Deshalb ist es äußerst begrüßenswert, dass wir derzeit genau dazu viele Vorschläge unterschiedlichster Akteure sehen. Diese Werteportfolios haben den Effekt, dass wir über die Vollständigkeit der Portfolios und die Rangordnung der jeweiligen Werte in den Diskurs treten müssen. Erst damit werden ethische Herausforderungen sichtbar für die ganze Gesellschaft thematisiert und nicht nur von einem kleinen Expertenkreis stellvertretend für alle bewertet.
Die belastbare Antwort auf ein „Warum?“ war lange Zeit Indikator für fundierte Entscheidungen in nahezu allen Bereichen – zumindest bevor Digitalisierung mit Big Data-Anwendungen Fahrt aufgenommen hat. Entscheidungen sollten auf Basis möglichst exakter Informationen und kausaler Erklärungen beurteilt werden. Fachkenntnisse waren dafür sehr bedeutend. Warum kauft der Kunde? Weil ihm das Produkt gefällt, es seine gezielt geweckten Bedürfnisse befriedigt, ihm einen Nutzen verschafft, usw. – Kausalität stand im Zentrum der Untersuchungen.
Doch das hat sich gewandelt. Expertenwissen ist vielfach gar nicht mehr gefragt, denn das Warum wird einfach abgeschnitten und fast schon irrelevant. Viel wichtiger ist nun Data Science Kompetenz, um aus einer riesigen Datenmenge Muster herauszufiltern, die Aussagen erlauben zur Frage in welchem Zusammenhang „Kauft der Kunde?“ An die Stelle von Exaktheit und Kausalität treten Unschärfe und Korrelationen in riesigen Datenmengen. Das Warum wird abgeschnitten. Relevant ist nur noch das „ob“.
Reduktion auf Statistik
Genau diese Reduktion auf ein mathematisches Urteil statistischer Zusammenhänge, die automatisiert errechnet werden, berührt den Kern von Digitalisierungsethik. Derartiges Vorgehen leidet an dem Denkfehler durch erkannte Makromuster könnten und dürften immer Rückschlüsse auf die Mikroebene – den einzelnen Menschen – gezogen werden. Hinzu kommt die nicht 100%ige Wahrscheinlichkeit, mit welcher statistische Aussagen Gültigkeit beanspruchen können.
Auch wenn so manches Instrument aus dem digitalen Zauberkasten hilfreich sein kann, ist Demut und Vorsicht angebracht bei der Nutzung von BigData-bezogenen Einschätzungen. Ein mathematisches Urteil aufgrund von Korrelationen muss immer mit einer dieses übertreffenden Ethikantwort und nachvollziehbaren Kausalitätsargumenten gepaart sein, die einem verantwortlichen Menschen zuzuschreiben sind. Auch wenn dies die Effizienz profitorientierter Geschäftsmodelle in der Digitalisierung senkt! Es darf niemals sein, dass ein statistischer Zusammenhang allein zur ursächlichen Begründung erhoben wird, wie mit einem Menschen umzugehen ist. Die Hoheit in solchen Entscheidungen muss immer bei einem Menschen verbleiben, der die Frage nach dem Warum jenseits von Big Data zu beantworten und verantworten hat.
Entscheidungen müssen bei Menschen bleiben
Wenn z.B. ein Kreditrating Menschen Punkte zuordnet, darf es nicht sein, dass der Punktwert als Begründung für die Gewährung oder Ablehung eines Kredites als Argument gelten kann. Einer der wichtigsten Werte für eine menschendienliche Digitalisierung ist deswegen die dauerhafte und durchgängige Hoheit des Menschen. Insbesondere über den Menschen betreffende Entscheidungen aller Art. Wir benötigen die dauerhafte Möglichkeit, mathematisch begründete Entscheidungen und Urteile zu revidieren, anzupassen und Gegenbeweise anzutreten. Dazu gehört die volle Transparenz über Herkunft, Motivation und Zustandekommen statistischer Begründungen.
Belastbare Antworten geben
Ver-ANTWORTung im wörtlichen Sinn wird hier relevant: Es sind belastbare Antworten zu geben und von Menschen – nicht Algorithmen – zu verantworten in voller Transparenz. Betroffene Menschen müssen jederzeit in der Lage und berechtigt sein, die statistischen Aussagen widerlegen zu können. Wenn dies gelingt, ist die Revidierbarkeit der Urteilsfindung/-begründung die logische Folge.
„Es“ ist in der digitalisierten Welt nur das existent, was wir digital abbilden können oder abbilden wollen oder vielleicht auch nur das was wir abbilden lassen. Digitalisierung geht immer einher mit einer Reduktion der Realität auf mathematisch abbildbare und auch tatsächlich abgebildte Facetten. Digitalisierung kann aber nie die Wirklichkeit vollständig abbilden, da sie für uns Menschen wesentlich vielschichtiger ist, als es Zahlen ausdrücken können.
Verpixelte Wirklichkeit
Allein die Ethik, Philosphie und Theologie belegen, dass wir Zugänge zur Welt kennen, die mit Mustern in Datenbergen niemals zu erfassen sind. Die Betrachtung und Erklärung des „es“ – der Wirklichkeit – ist immer abhängig von der weltanschaulichen Brille, die der Betrachter aufgesetzt hat. In diesem Punkt sehen wir vor allem den Naturalismus als Mainstream in den Erklärungsansätzen der Welt, welche die Mehrzahl der Digitalisierungsevangelisten zwar unlauter verborgen aber wie selbstverständlich voraussetzen. Unsere analoge von Metaphysik durchzogene Wirklichkeit wird zwanghaft binär digital abgebildet und verpixelt. Mathematische Logik in elektrischen oder lichtbasierten Schaltkreisen gaukelt die vollständige Berechenbarkeit der Welt vor.
Von diesem Ansatz nicht fassbare Phänomene wie Liebe, Geist, Freiheit, Spiritualität, Kunst und Ästhetik existieren nicht (mehr), sondern werden algorithmisiert „vermustert“ oder gar ausgemustert. Das Pochen auf Digitalisierung in allen Spähren reduziert selbst diese Phänomene auf mathematische Beweisbarkeit – Liebe entspricht dem optimalen Matching von Interessen, Kunst wird durch AI-Malprogramme reproduzierbar, Geist existiert ohnehin nicht und über den Rest sprechen wir einfach nicht. Wir reduzieren unser Wissen und Forschen dann nur noch auf das, was digital mathematisch abbildbar ist.
Akzeptanz für Vielfalt
Wenn dann noch die Voraussetzung dazu kommt, dass auch wirtschaftliche Monetarisierbarkeit als ebenso wichtiger Maßstab hinzukommt, tappen wir in die Falle einer geistigen Arrmut und degenerierten Blindheit für das, was uns als Menschen ausmacht. Metaphysik wird irrelevant, die Welt gefährlich eintönig und vermeintlich leicht erklärbar. Um nicht in diese Fall zu tappen, benötigen wir Akzepttanz für Vielfalt in der Erklärung der Welt und in unserem menschlichen Sein. Diese entsteht nicht von selbst, sondern muss aktiv gefördert werden, indem jenseits formaler Verfahren, Toleranz und Respekt für thelogische und philosophische Deutungen vorherrscht und bewusst digitalisierungsfreie Räume in allen wesentlichen Gesellschaftsbereichen offen gehalten werden, die das fördern.
So genannte Digitalisierungsverweigerer spielen hier eine wichtige Rolle – auch ihnen und ihrer Sicht der Dinge müssen Wirtschaft und Gesellschaft umfassend gerecht werden. Das beginnt bei der Vorhaltung von Bargeld, der Möglichkeit auch ohne Datenspur online Einkaufen zu können, Bildung auch analog face-to-face und ohne Tabletklasse oder Gamification genießen zu können und bei keiner der Aktivitäten datafiziertem Nudging in irgendeine Richtung ausgesetzt zu sein.
Digitalisierung erfordert jederzeit den Menschen als Subjekt anzuerkennen, ihn nicht zu instrumentalisieren oder gar zum Objekt in Form eines datenbasierten Reiz-Reaktionsschemas zu machen. Wer sich nicht in die geschmeidige Welt der digitalisierten Masse einordnen will, darf sich nicht rechtfertigen müssen – das ist und bleibt schwierig, macht aber den Menschen und seine Selbstbestimmung aus. Hier scheint die wichtigste Wertefrage auf. Die nach der WÜRDE des Menschen und daraus abgeleitet seiner FREIHEIT und PRIVATHEIT. Niemand muss zwingend Teil der digitalisierten Wirklichkeit sein.
Hoheit und Würde
Bei all den Diskussionen um die wichtigsten Werte in der Digitalisierung, sind zwei Werte unabdingbar: die Hoheit und die Würde des Menschen. Wird auch nur einer davon in irgendeiner Weise durch Digitalisierung in Frage gestellt, brauchen wir dazu tiefgehende Analysen, Folgenabschätzung, Beurteilungen aus Sicht aller Betroffenen, politische Diskussionen und sofern notwendig auch Regulierung.
Die Europäische Union hat bereits bewiesen, stark genug zu sein, das wirklich Neue mit Augenmaß und Vernunft mit den bestehenden normativen Errungenschaften – dem Bewährten – in Einklang zu bringen. Neu sind Geschwindigkeit und Gleichzeitigkeit der disruptiven Umbrüche durch die digitale Revolution. Bewährt sind die über Jahrhunderte erkämpften Grundrechte in Form der UN-Charta der Menschenrechte von 1948 und in Europa in Form der EU-Grundrechtscharta nach der Jahrtausendwende.
Neu für Wirtschaft und Gesellschaft ist, dass es nicht nur Schritte nach vorn gibt, sondern dass auch Schritte zurück nötig und möglich sind – und politisch tatsächlich durchgesetzt werden. So wurde mit der EU-DSGVO der Beweis angetreten, dass nichts so bleiben muss, wie es sich einfach einmal entwickelt hat.
Das wirklich Neue an der Digitalisierung ist, dass wir sie wo erforderlich gezielt und gemeinschaftlich einhegen und kultivieren müssen, wo sie über die wichtigsten Werte hinauswuchert. Technologie und ihre Anwendungsformen waren noch nie gottgegebene Naturgesetze, sondern sind jederzeit politisch veränderbar.
Prof. Dr. rer. pol. Harald J. Bolsinger lehrt Business Ethics & Economics an der Hochschule für angewandte Wissenschaften Würzburg-Schweinfurt