Berlin/Bremen (csr-news) > Seit Jahren steht der Streit um Nahrungsmittelspekulationen auf der Agenda und aus dem moralischen Problem ist längst auch eine Auseinandersetzung unter Wissenschaftlern geworden. Die Frage ist, ob Spekulationen auf Agrarrohstoffe für den Hunger in der Welt mitverantwortlich gemacht werden können. Eine neue Studie des Bremer Ökonomen Prof. Hans-Heinrich Bass sieht dafür klare Indizien.
In Auftrag gegeben wurde die Untersuchung von der Verbraucherorganisation foodwatch. Deren Position zum Thema, genauso wie die anderer NGOs, ist klar, sofortiger Ausstieg aus dem Spekulationsgeschäft mit Nahrungsmitteln. Diese Haltung teilen große Teile der Bevölkerung. In einer Forsa-Umfrage aus dem Sommer dieses Jahres, beauftragt durch Oxfam, sprachen sich dreiviertel der Befragten für ein Ende solcher Geschäfte aus. Und mehr als 60 Prozent wünschten sich, dass die Bundesregierung regulierend eingreift. In den Koalitionsverhandlungen von Union und SPD gibt es dazu tatsächlich Überlegungen. So hat man in den Verhandlungen eine Eindämmung von Rohstoff- und Nahrungsmittelspekulationen, beispielsweise durch die Einführung von Positionslimits, verabredet. Auf europäischer Ebene sind diese Maßnahmen längst im Gespräch, allerdings zu weich formuliert wie NGOs kritisieren. Aber auch Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble hat schon schärfere Regelungen gefordert. Beispielsweise will er die Regelungen auch auf den außerbörslichen Handel ausdehnen und zudem das Positionslimit von der europäischen Wertpapieraufsicht ESMA festlegen lassen. Bislang sollen die nationalen Regierungen selber die Höhe der Limits bestimmen.
Von all dem unbeeindruckt halten zahlreiche große Banken und Versicherungen an ihrem Geschäft fest. Während sich manche Institute wie die Deka, die Commerzbank oder die Landesbank Baden-Württemberg dem Druck der Öffentlichkeit gebeugt haben, wollen beispielsweise die Deutsche Bank und der Versicherungskonzern Allianz ihre Agrarspekulationen nicht aufgeben. Erst im Oktober wendete sich Allianz-Vorstand Jay Ralph in einem offenen Brief an die Organisation Oxfam. Hintergrund waren anhaltende Vorwürfe durch Oxfam und Demonstrationen vor den Türen von Deutscher Bank und Allianz. Nach Recherchen von Oxfam sind die Spekulationen mit Nahrungsmitteln dieser beiden Unternehmen gewaltig. Demzufolge liegt das Spekulationsvolumen der Allianz bei etwa 6,7 Milliarden Euro und dass der Deutschen Bank bei rund 3,79 Milliarden Euro. „Wir haben in Gesprächen mit Ihnen unsere Rolle als Investor in diesem Markt transparent gemacht und alle Fragen umfassend beantwortet und belegt“, schreibt Ralph in seinem Brief an Oxfam und fordert die Organisation auf, „die Kritik nachvollziehbar zu belegen, oder die Allianz nicht weiter für Kampagnen zu missbrauchen“. Weiter schreibt er: „Uns überzeugen die Untersuchungen und Argumente der Wissenschaftler, die für die Preisbildung von Nahrungsmitteln in Entwicklungsländern Faktoren wie Angebot und Nachfrage, Produktionskosten, Transportkosten, Zölle und Margen Vorrang geben“, und weiter „Wir respektieren aber den wissenschaftlichen Diskurs unterschiedlicher Meinungen“.
Damit spricht Ralph eine Untersuchung des Wittenberger Wirtschaftsethikers Prof. Ingo Pies an, der im Frühjahr in einer umstrittenen Studie die Unschädlichkeit von Agrarspekulationen als wissenschaftlich erwiesen ansah. Genau diese Studie veranlasste nun foodwatch in einer weiteren wissenschaftlichen Untersuchung die Thesen und Ergebnisse von Pies zu überprüfen. Beauftragt wurde dafür der Bremer Ökonom Prof. Hans-Heinrich Bass und der kommt zu einem gänzlich anderen Ergebnis als Pies. „Einen wissenschaftlichen Konsens gibt es nicht“, schreibt Bass. „Empirische Studien, die sich ausgefeilter Methoden bedienen, kommen tendenziell eher zu dem Schluss, dass Finanzmarktspekulation einen negativen Einfluss auf die Weltmarktpreise für Nahrungsmittel haben kann“. Bass hat für seine 65-seitige Studie das vorhandene Material und die verfügbaren Daten geprüft. Bass belegt, dass die Schlussfolgerungen von Pies nicht haltbar sind. Es sei falsch, die zentrale These von Pies und Glauben als Stand „der“ Wissenschaft darzustellen, der zufolge Finanzspekulation für die Entwicklung von Nahrungsmittelpreisen unschädlich sei und sogar „mit Sicherheit“ einen positiven Effekt habe. „Das Gegenteil sei richtig“, so Bass bei der Vorstellung seiner Meta-Studie. Unter anderem führt Bass an, dass von den fünf positiven Belegen, die Pies fand, alleine vier aus der Feder einer einzigen Wissenschaftlergruppe um den US-Wissenschaftler Scott H. Irwin sein. Inzwischen ist bekannt, das Irwin eng mit der US-amerikanischen Agrar- und Indexfondsindustrie verbandelt ist. Zudem haben Pies und Glauben auf eine methodenkritische Analyse der Quellen, die ihre Thesen stützen, verzichtet. „Diese wäre aber bitter nötig“, so Bass, denn sowohl Methoden als auch Datengrundlagen sind unter Wissenschaftlern äußerst umstritten. „Als andere Wissenschaftler eine Berechnung von Irwin et al. mit Daten aus einem etwas anderen Zeitraum wiederholten, seien sie „spektakulärerweise“ zum gegenteiligen Ergebnis gekommen“, so Bass. „Dass Indexfonds nämlich sehr wohl die Weltmarktpreise von Nahrungsmitteln beeinflussen können“. Der Bremer Ökonom warnt, dass die These von der angeblich bewiesenen Unschädlichkeit der Finanzspekulation auf den Agrarmärkten „sogar gefährlich“ werden könne: Wenn sie Unternehmen vom Ausstieg aus der Agrarspekulation abhalten oder die bereits ausgestiegenen Banken zu einer Kehrtwende verleiten würde. „Wer jetzt nicht die Reißleine zieht, handelt verantwortungslos“ lautete dann auch das Fazit von foodwatch-Chef Thilo Bode.
Die Dokumente zum Thema:
Kernzitate der Studie von Bass – zusammengestellt von foodwatch
foodwatch-Argumentationspapier zur Bass-Studie „Finanzspekulation und Nahrungsmittelpreise“
Video zum Thema von der NGO WEED auf youtube