Vielleicht ist es schon ein Mem, der Cartoon des Kanadiers Graeme MacKay: Irgendjemand in einer Großstadt klärt auf, dass alles gut wird, wenn wir uns nur die Hände waschen, denn eine ziemlich bedrohliche Welle rast auf die Stadt zu, ein ausgewachsener Tsunami: Covid-19. Und der verdeckt die nächste, größere Wasserwand, die Rezession, gefolgt von einem solchen Wellenmonstrum, gegen das die beiden vorherigen Kindergeburtstage sind: Die Klimakrise.
Die Meinung von unternehmensdemokrat Andreas Zeuch
Als MacKay diesen Cartoon am 11. März 2020 veröffentlichte, war der Ukrainekrieg noch nicht ausgebrochen und somit gab es noch keine sich weiter stark beschleunigende Inflation und (europäische) Energiekrise. Und doch reichten schon die drei Wellen, um klarzumachen: Die Zukunft wird kein Zuckerschlecken, es sei denn Mensch ist Milliardär:in und hat sich als prepping-perfekte Zufluchtsstätte ein paar Hektar auf Neuseeland gekauft und dort einen veritablen Bunker ins Erdreich getrieben, ausgestattet mit Vorräten für mindestens zwei Jahre und einer neckischen Wellnessoase. Es gibt diese Leute, das ist keine Phantasie. So einer ist beispielsweise Peter Thiel, einer der Erfinder von Paypal und Facebook Investor der ersten Stunde. Er kann recht entspannt weiter seine grotesk-obskure Weltsicht austoben (Kyriasoglu 2022), denn vermutlich steht irgendwo ein Learjet bereit, stets vollgetankt, um ein paar Tausend Meilen zwischen sich und den Mob zu bringen und sich anschließend zu verbarrikadieren. Aber der Rest von uns?
Unter diesen Bedingungen ist es kein Wunder, dass Unsicherheit zunehmend mehr Bürger:innen erfasst. Aber es sind nicht nur die sich auftürmenden Krisen, sondern auch das Gefühl nicht wirklich etwas dagegen unternehmen zu können. Ja, wir können wählen und uns wählen lassen, aber dann folgt nur ein endloses Aushandeln von Kompromissen für eine Realpolitik, die diese Krisen bislang nur mehr schlecht als recht in den Griff bekommt. Ein Beispiel bietet das wegweisende Urteil des Bundesverfassungsgerichts von 2021 zum Klimaschutzgesetz unserer letzten Regierung. Im zivilen Leben können wir ergänzend noch an Initiativen teilnehmen, selber welche ins Leben rufen etc.
Zudem sind die meisten von uns im Arbeitsalltag als abhängige Angestellte nichts weiter als Verrichtungsgehilfen gemäß §831 BGB. Wir handeln auf Anweisung unserer Dienstherr:innen. Die amerikanische Philosophin Elisabeth Anderson spricht bei US-amerikanischen Unternehmen sogar von privaten Regierungen und Unternehmensdiktaturen (Anderson 2020), was der emeritierte Professor Werner Nienhüser für deutsche Unternehmen untersuchte (Nienhüser 2022) und zu dem Ergebnis kam, dass es bei uns nicht ganz so schlimm ist, wir aber keineswegs diktatorische Elemente ausschließen können. Kurzum: Schon sind uns wieder enge Grenzen der Gestaltbarkeit gesteckt. Wie soll bei all dem das wichtige Gefühl von Selbstwirksamkeit entstehen?
Die Aktualität einer alten Idee
In dieser komplexen Gemengelage wird kein Ansatz alleine die Lösung sein. Es braucht zukünftig viele verschiedene Konzepte, um unsere Welt wieder enkeltauglicher zu machen. Eines davon klingt einigermaßen verstaubt und findet sich bis heute kaum im öffentlichen Diskurs: Die Demokratisierung der Arbeit, kurz Unternehmensdemokratie. Und damit meine ich nicht die Einführung eines Betriebsrats in Unternehmen, denn dann sind wir schon wieder im Modell delegativer Repräsentation, bei dem die meisten wieder nicht aktiv gestalten. Die Idee einer Demokratisierung durch kollektive Interessenvertretung war früher vielleicht passend, heute kommt sie als Spiegel einer repräsentativen Demokratie schnell an ihre Grenzen, denn letztere scheint selbst zunehmend dysfunktionaler zu werden, nicht nur, aber auch aufgrund des repräsentativen Modells.
Wir unternehmensdemokraten plädieren viel mehr für ein modernes Verständnis und eine angemessene Umsetzung von Partizipation an organisationalen Entscheidungen verschiedener Reichweite, gerne in Ergänzung zu Betriebsräten, aber das ist keine Voraussetzung. Angefangen bei operativen Entscheidungen der täglichen Arbeit (Arbeitszeit, -ort, -mittel etc.) kann die Partizipation über taktische Entscheidungen (TeamRecruiting, Projektauswahl und -besetzung) und strategische (Strategieentwicklung, Standortentscheidungen, Geschäftsmodellinnovationen etc.) bis hin zu normativen Entscheidungen zur Governance der Organisation und ihrem Wertegerüst reichen. Wie weit die Belegschaft dazu eingeladen wird, obliegt in Kapitalgesellschaften der Geschäftsführung oder dem Vorstand. Sie müssen diese Demokratisierung wollen, damit die Mitarbeitenden erstens partizipieren dürfen und schließlich auch können, weswegen es fast immer auch Kompetenzentwicklung braucht. Und ja: Auch die Mitarbeitenden müssen wollen, deshalb habe ich den Begriff der „doppelten Freiwilligkeit“ geprägt, der unserem Verständnis von Partizipation bei den unternehmensdemokraten zu Grunde liegt.
Da unsere Arbeit für viele, vermutlich eher die meisten Erwachsenen im Erwerbsalter, einer der größten Sozialisationsräume ist, liegt es gerade in der heutigen Zeit nahe, diesen Raum für zweierlei zu nutzen: Erstens eine Gestaltung der Organisationen hin zur Nachhaltigkeit und Resilienz. Das muss sowieso passieren, wie die aktuelle Multikrise und die kommende EU-Richtlinie der Corporate Sustainability Reporting Directive zeigen. Zweitens, um als Multiplikator zur bitter nötigen Weiterentwicklung unserer Demokratie zu dienen. An dieser Stelle kommt der Spillover Effekt ins Spiel.
Spillover: Die Grenzen des Erfolgs überwinden
Dieser Effekt besteht darin, dass Haltungen, Kompetenzen und Selbstwirksamkeitserfahrungen bezüglich Nachhaltigkeit und Demokratie, die bei der Arbeit erworben und entwickelt werden, den Mitarbeitenden auch außerhalb der Arbeit zur Verfügung stehen. Die britische Politikwissenschaftlerin Carol Pateman führte die Idee des demokratischen Spillover 1970 in die politikwissenschaftliche Debatte ein, der seitdem in über 50 Jahren vielfach empirisch erforscht wurde. Mittlerweile gibt es eine Vielzahl von Studien nicht nur zum demokratischen (z.B. Savory-Gordon 2003, Ryan und Turner 2021), sondern auch zum Nachhaltigkeits-Spillover (z.B. Littleford et al. 2014, Verfuehrt et al. 2021). Wir können mit gutem Grund davon ausgehen, dass dieser Effekt tatsächlich auftritt, wenngleich er kein einfacher Automatismus ist.
Sprich: Wenn wir systematisch beginnen, organisationale Nachhaltigkeit und Resilienz konsequent partizipativ mit allen interessierten Mitarbeitenden – Freiwilligkeit! – zu erarbeiten, statt einmal mehr diese Aufgaben und ihre Lösungen topdown entlang der traditionellen hierarchischen Stufen durch das Unternehmen zu kaskadieren, dann ändert sich etwas Wesentliches. Nicht von jetzt auf gleich, aber im Laufe der Zeit, die nötige Geduld vorausgesetzt. Die Angestellten, die dabei mitwirken, entwickeln bewusst oder unbewusst ihre Haltungen zu zentralen Herausforderungen, denen sie auch im Leben jenseits der Arbeit begegnen; sie erwerben neues Wissen und neue Kompetenzen, sei es zu partizipativen Entscheidungsprozessen oder Fragen der Nachhaltigkeit und stärken so Stück für Stück ihre Selbstwirksamkeit. Es wäre naiv zu behaupten, das alles sei ein Selbstläufer, der in dem Moment in Gang gesetzt würde, in dem ein Unternehmen beginnt, seine Nachhaltigkeit und/oder Resilienz partizipativ (weiter) zu entwickeln. Das ist ebenso wenig der Fall, wie ich es oben schon hinsichtlich des Spillover Effekts feststellte. Es gibt viele Hürden und immer wieder Rückschläge und Misserfolge. Das Entscheidende ist aber, dass die Belegschaft dabei nicht auf die Zuschauerbank gesetzt wird. Wer will, darf mitgestalten. Diese Erfahrung in einem deutlich weniger komplexen Umfeld als unserer gesamten Zivilgesellschaft bietet dabei genau den Lern- und Experimentierraum, der nötig ist, um neue Erfahrungen von Selbstwirksamkeit zu ermöglichen, die im sonstigen Alltag meist auf die Gestaltungshoheit unseres Hausstands verkürzt sind.
Alles in allem scheint somit die partizipativ-demokratische Gestaltung organisationaler Nachhaltigkeit und Resilienz ein vielversprechender Weg, um wieder sicherer und handlungsmächtiger zu werden. Auch dann, wenn es mehr braucht, als sich bloß die Hände zu waschen.
Dr. Andreas Zeuch
ist Gründer und Partner der unternehmensdemokraten, Berlin. Das Beratungsunternehmen begleitet Menschen und Organisationen auf dem Weg zu mehr und besserer Partizipation.
Literatur
- Anderson, E. (2020): Private Regierung. Wie Arbeitgeber über unser Leben herrschen (und warum wir nicht darüber reden). suhrkamp taschenbuch wissenschaft
- Kyriasoglu, C. (2022): Wie der Dark Lord des Silicon Valley auf die Spaltung Amerikas wettet. Spiegel+
- Littleford, C., Ryley, T.; Firth, S. (2014): Context, Control and the Spillover of Energy Use Behaviours between Office and Home Settings. Journal of Environmental Psychology 40: 157–166
- Nienhüser, W. (2022): Unternehmen: Diktaturen oder Demokratien? Debatten zur Reform der Unternehmensverfassung. Industrielle Beziehungen. Zeitschrift Für Arbeit, Organisation Und Management, 28(3): 283–316
- Pateman, C. (1970): Participation and Democracy Theory. Oxford University Press
- Ryan, L., & Turner, T. (2021): Does work socialisation matter? Worker engagement in political activities, attachment to democracy and openness to immigration. Industrial Relations Journal
- Savory-Gordon, L. (2003): Spillover effects of increased workplace democracy at Algoma Steel on Personal, Family, and Community Life.
- Verfuerth, C.; Gregory-Smith, D.l.; Oates, C. J. et al. (2021): Reducing meat consumption at work and at home: facilitators and barriers that influence contextual spillover. Journal of Marketing Management, 37(7–8), 1–32
- Zeuch, A (2022): Spillover-Effekt: Von der beruflichen zur privaten Nachhaltigkeit. Blog der unternehmensdemokraten