Düsseldorf (csr-news) > Allerdings sieht die Entwicklung in der Hauptstadt bei industriellen Startups derzeit besser aus als in vielen bestehenden Industrieunternehmen, zeigt ein neues, von der Hans-Böckler-Stiftung gefördertes Forschungsprojekt von Forschern des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW), der TU Berlin und des Beratungsunternehmens Sustain Consult. Die Politik könne sowohl Startups als auch etablierte Industrieunternehmen besser unterstützen – etwa, indem sie den Wissenstransfer fördert und Nutzungskonflikte zwischen Wohnen und Gewerbe löst. In der Studie hat Prof. Martin Gornig vom DIW und Prof. Axel Werwatz von der TU Berlin untersucht, wo in Deutschland zwischen 2012 und 2016 Industrieunternehmen gegründet wurden. Anschließend haben sie die Zahl dieser Industrie-Start-Ups in Bezug gesetzt zur Anzahl der Beschäftigten im verarbeitenden Gewerbe in den jeweiligen Städten und Regionen – und daraus die sogenannte Gründungsintensität errechnet.
Die höchste Gründungsintensität weist demnach Berlin auf. Auch die Regionen München, das Rhein-Main-Gebiet, Leipzig und Dresden sowie die Metropolen an Rhein und Ruhr schneiden recht gut ab. Ein aktuell sehr starker Industriestandort wie Stuttgart hat dagegen deutlichen Rückstand, noch weiter zurück liegen eher ländlich geprägte Regionen. In den großen Metropolen liege die Gründungintensität im Schnitt mit 80 Gründungen je 100.000 Beschäftigte um fast 40 Prozent höher als in den übrigen Regionen der Bundesrepublik, schreiben Gornig und Werwatz. Und innerhalb der Metropolregionen siedelten sich auffällig viele neue Industriebetriebe direkt in den Innenstädten an.
Die Wissenschaftler erklären dies einerseits mit der räumlichen Nähe zu Forschungseinrichtungen. Wie bedeutsam diese ist, macht auch eine weitere Studie des Forschungsprojekts deutlich: Dr. Heike Belitz und Dr. Alexander Schiersch vom DIW zeigen anhand von umfangreichen Daten für Industrieunternehmen in Deutschland, dass Unternehmen in Großstädten und deren Umland nicht nur mehr Forschung als in ländlichen und verstädterten Regionen betreiben, sie sind im Schnitt auch produktiver. Einen weiteren wichtigen Faktor für das dynamische Gründungsgeschehen in Großstädten sehen Gornig und Werwatz in der Nähe zu Konsumenten – und nicht zuletzt den neuen Möglichkeiten digitaler Technologien. Durch direktere Kundenbeziehungen, datengetriebene Steuerungsprozesse, sensorgesteuerte Roboter oder neue Fertigungstechnologien sei eine schnellere und kleinteiligere Produktion möglich – beispielsweise die unmittelbare Fertigung eines Turnschuhs nach Wunsch des Kunden und vor dessen Augen.
Am Beispiel Berlin lässt sich ablesen, was die neue Attraktivität der Großstadt ausmacht: Die höchste Zahl an Gründungen im Bereich Hightech ist im westlichen Innenstadtbereich im Bezirk Charlottenburg zu verzeichnen. Dort befindet sich der Hauptcampus der Technischen Universität. Auch Adlershof im Südosten Berlins zählt zu den bevorzugten Gründungsstandorten, hier liegen ein Campus der Humboldt-Universität und ein großes Technologiezentrum. Ebenfalls stark auf wenige Standorte konzentriert sind Gründungen von sogenannten Lowtech-Industrien, die häufig Konsumprodukte oder Nahrungsmittel herstellen. Hier liegen die bevorzugten Gründungsstandorte allesamt im hochverdichteten Innenstadtbereich Berlins (Abbildung 5 und 6 im DIW-Wochenbericht). Diese Konzentration spricht dafür, dass die Nähe zu zahlungskräftigen Kunden eine große Rolle spielt. Insgesamt werden in Berlin im Schnitt viermal so viele Hightech- und sogar fünfmal so viele Lowtech-Industrieunternehmen gegründet wie in Regionen außerhalb von Metropolen. „Die Standortmuster der Industrie justieren sich neu“, schreiben die Autoren der Studie.
Um den Industriestandort Großstadt tatsächlich wiederzubeleben, müssten allerdings aus den neu gegründeten Firmen erst noch nachhaltig wachsende Industrieunternehmen werden. Zumal zumindest in Berlin die Trends bei den Startups positiver sind als bei vielen etablierten Industrieunternehmen, wie Ralf Löckener von Sustain Consult im dritten Teil des Forschungsprojekts zeigt: Zwar ist die Zahl der Industriebeschäftigten in Berlin nach jahrzehntelangem Rückgang wieder gewachsen – um fast zwei Prozent auf rund 117.000 seit 2010. In einer Umfrage unter Betriebsräten sowie Interviews in Industrieunternehmen aus den Bereichen Pharma sowie Medizin-, Energie- und Mobilitätstechnik und wirtschaftsnahen Einrichtungen ermittelt der Forscher aber sehr gemischte Perspektiven.
Viele der Befragten sehen in der Digitalisierung Chancen – gerade am Standort Berlin mit seiner Vielzahl von Forschungseinrichtungen. Diese Potenziale werden von großen Industrieunternehmen mittlerweile rege genutzt, vielen kleinen und mittleren Unternehmen müsste der Zugang zu Wissen und Kooperationspartnern aus der Startup-Szene dagegen erleichtert werden. Zugleich berichten rund drei Viertel der Betriebsräte, dass in ihrem Betrieb über die Verlagerung von Tätigkeiten weg aus Berlin diskutiert werde, nur rund 20 Prozent rechnen mit einer Verlagerung neuer Aufgaben in die Metropole. Das gelte insbesondere in Unternehmen, deren Hauptsitz nicht in der Hauptstadt liegt. „Externe Industrieunternehmen sehen Berlin vielfach als besten Standort für die Ansiedlung von ausgelagerten Forschungs- und Entwicklungszentren, den Aufbau von Angeboten spezieller Dienstleistungen oder Demonstrationsprojekte; die Wertschöpfung durch Produktion findet dann aber oft woanders statt“, schreibt Löckener.
Daran etwas zu ändern, bedürfe auch verstärkter Industriepolitik, die sich in der Hauptstadt insbesondere auch an kleine und mittlere Unternehmen wenden sollte. Erfolgreiche Digitalisierung sei im Übrigen nicht alleine vom Zugang zu Wissen und Technologien abhängig; vielmehr spiele deren Anwendung durch die Beschäftigten eine entscheidende Rolle. Der erforderliche Wandel in Industrieunternehmen könne von Betriebsräten entscheidend unterstützt werden. Solche Innovations- und Wachstumsprozesse könne die Politik in vielfacher Weise unterstützen: beispielsweise durch die Bereitstellung von Risikokapital, die Intensivierung des Wissenstransfers oder die Anwerbung von Fachkräften aus dem In- und Ausland. Eine zentrale Aufgabe werde außerdem darin bestehen, die Konflikte zwischen Wohnen und Gewerbe in der Stadt aufzulösen.