Auf unserer Haut tragen wir Stoffe, deren Rohmaterialien aus Indien stammen und die in Bangladesch oder Vietnam zusammengeschneidert wurden. Manche darunter von Menschen, die von ihrer Arbeit nicht leben können. Textilien kommen uns besonders nah, ihre Herstellung geschieht zumeist in globalen Wertschöpfungsketten. Auch deshalb erhalten Verantwortungsthemen dieser Branche öffentliche Aufmerksamkeit.
Von Achim Halfmann
Am 24. April 2013 stürzte der Fabrikkomplex Rana Plaza im Norden von Dhaka, der Hauptstadt von Bangladesch, ein. Über 1.100 Textilarbeiterinnen verloren ihr Leben, bei den 2.300 lebend aus den Trümmern Geborgenen hinterließ der Einsturz Verletzungen und Traumatisierungen, viele konnten über Jahre keiner Arbeit nachgehen und versanken weiter in Armut. Unmittelbar vor der Katastrophe hatten sich Risse an dem Gebäude gezeigt. Die ansässigen Firmen, bei denen auch für westliche Modelabel gefertigt wurde, ließen ihre Arbeiterinnen trotzdem weiter produzieren.
Das Ereignis löste weltweit Entsetzen aus. Dass günstige Textilpreise in westlichen Ländern einen Tribut in den Herstellungsländern fordern, trat zunehmend in das Bewusstsein von Konsument:innen. NGOs und Gewerkschaften nahmen internationale Handelsketten für Entschädigungszahlungen an Opfer und Angehörigen der Katastrophe in die Pflicht. Der „Bangladesh Fire and Building Safety Accord“ -kurz: Accord – wurde geschlossen, in Deutschland entstand auf Initiative des damaligen Bundesentwicklungsministers Gerd Müller das „Bündnis für nachhaltige Textilien“.
Zwei Monate vor dieser Katastrophe besuchte ich die Textilindustrie in Dhaka und wenige Tage vor dem Einsturz des Fabrikkomplexes erschien unsere 9. Magazinausgabe mit dem Schwerpunkt: „Verantwortung auf fremden Märkten“. Damals titelten wir:
Einige Begegnungen sind mit bis heute lebendig in Erinnerungen:

Dhaka 2013: Löschen mit Sand und Wasser (Foto: Achim Halfmann / CSR NEWS)
Löschen mit Sand und Wasser
Das war der Textilproduzent, der mir in seiner modernen Produktionsanlage eine Sandtonne und Wassereimer zeigte – als Bestandteil der Brandschutzeinrichtung. Damit lasse sich zwar im Ernstfall nicht bewirken, diese Hilfsmittel seien aber gesetzlich vorgeschrieben.
Kleine Mitarbeiter für Bauprüfungen
Ein europäischer Consultant berichtete mir, als ich nach dem Bauboom in Dhaka fragte: Die Stadtverwaltung würde zwar Bauanträge genehmigen, es fehle aber an Personal für Vor-Ort-Besuche, um die Bauausführung danach zu überprüfen.
Mit 10 Jahren aus der Schule
Eine NGO-Mitarbeiterin berichtete: In den für westliche Firmen produzierenden Unternehmen gebe es keine Kinderarbeit, wohl aber in denen, die für den arabischen oder asiatischen Markt arbeiteten. Und so würde für viele Mädchen der Schulbesuch nach wie vor im Alter von 10 Jahren enden.

Textilarbeiterinnen in Dhaka beim Entstauben (Foto: Achim Halfmann / CSR NEWS)
60-Stunden-Woche für 50 Euro Monatslohn
Am lebendigsten sind mir die Gespräche mit um die 20 Jahr alten Textilarbeiterinnen in Erinnerung. Einige berichteten, dass vom Land in die Stadt gezogen seien, um zur Ernährung ihrer Familien beizutragen. Hier arbeiteten sie an sechs Tagen in der Woche jeweils 10 Stunden – für einen Monatslohn von 50 Euro. Ich habe die Unterkünfte von Textilarbeiterinnen besucht, die Armut dieser Menschen wird dort greifbar.
Was zugleich auf ein aktuelles Problem verweist: Der Lohn der Textilarbeiterinnen hat sich bis heute nicht verbessert. Er liegt heute bei 70 Euro im Monat, was inflationsbereinigt kein Plus darstellt. Gerade wird über Lohnanpassungen verhandelt.
Der Accord wirkt
In Sachen Gebäudesicherheit hat dagegen der Accord deutliche Verbesserungen gebracht. Die Verantwortung für die Koordination dieses von internationalen Handelsmarken und Gewerkschaften mitgetragenen Abkommens ist inzwischen auf die Regierung von Bangladesch übergegangen. „Seit der Überführung des Accords in die Verantwortung der Regierung von Bangladesch gibt es Hinweise darauf, dass Kontrollen nicht so zuverlässig durchgeführt werden wie zuvor“, sagt Berndt Hinzmann, Referent für Wirtschaft und Menschenrechte beim Inkota-Netzwerk. „Es fehlt an Ressourcen, um fachspezifisch kontrollieren zu können.“
Kritik und Anerkennung für das Textilbündnis
Wie das ebenfalls als Reaktion auf die Rana Plaza-Katastrophe gegründete Textilbündnis wirkt, ist umstritten. Die Vorsitzende der NGO Femnet, Gisela Burckhardt, kritisiert das Fehlen gendersensibler Maßnahmen im Textilbündnis – obwohl hauptsächlich Frauen in den Textilunternehmen beschäftigt seien. Berndt Hinzmann sitzt von Anfang an bis heute als Vertreter der Zivilgesellschaft im Steuerungskreis des Textilbündnisses. „Das Bündnis hätte mehr Potential gehabt – gerade in den ersten Monaten nach der Katastrophe von Rana Plaza“, sagt Hinzmann. „In vielen Bereichen – wie bei dem erwähnten Common Framework of Responsible Purchaising Practices – fehlt es an sichtbarer Umsetzung, auch bei Mitgliedern des Textilbündnisses.“
Auch Jan Lorch gehört zum Steuerungskreis seit dessen Anfängen – als Leiter Sustainability von Unternehmensseite. „Zur Bewusstseinsbildung, in den Schulungen und als Austauschplattform hat das Bündnis viel gebracht“, sagt Lorch. „Wir haben unter den Mitgliedern, was die nachhaltige Transformation angeht, allerdings unterschiedliche Geschwindigkeiten. Manche sind recht langsam und das Vorgehen im Bündnis war – auch im Steuerungskreis – nicht sehr ambitioniert. Da wird manchmal zu viel auf den kleinsten gemeinsamen Nenner abgestellt.“
Linda Schraml leitet das Sekretariat des Bündnisses. „Das Textilbündnis ist seit seiner Gründung ein Impulsgeber für Transformation“, sagt Schraml. „Und zwar einer Transformation, in der Vorreiter voranschreiten können und gleichzeitig die gesamte Branche in ihrer Breite mitgenommen wird.“ Interviews mit den drei zuletzt Zitierten bringen wir in dieser Magazinausgabe.
Kreislaufwirtschaft: “Wesentliche Aspekte fehlen”
Schraml verweist auch auf das Fokusthema „Kreislaufwirtschaft“, welches das Textilbündnis mit Nachdruck verfolge. Das Thema wird durch die Europäische Union stark vorangetrieben – insbesondere durch die „EU-Strategie für nachhaltige und kreisförmige Textilien“. „Bis zum 1. Januar 2025 müssen alle Länder ein explizites Rückgabeprogramm für Textilien aufgesetzt haben, ähnlich wie bei Glas oder Papier“, erklärt David Quass, Senior Director Sustainability bei der US-amerikanischen VF Corporation. „Um Kreislaufwirtschaft in unserer Industrie zu skalieren, fehlen uns allerdings noch wesentliche Aspekte, etwa eine quantifizierbare und KPI-gestützte Definition.“ Ein Interview mit Quass zur textilen Kreislaufwirtschaft lesen Sie ebenfalls in der aktuellen Magazinausgabe.
Transparenz durch digitalen Produktpass
Für das Lieferkettenmanagement stellt die Kreislaufwirtschaft eine Herausforderung dar, denn: „Durch Kreislaufwirtschaft wir der Datenbedarf größer“, sagt Andreas Schneider, Geschäftsführer von Global Textile Scheme (GTS). Zehntausende Unternehmen sammeln und verarbeiten Daten aus den unterschiedlichsten Quellen in den verschiedensten Systemen. Wir lassen sich solche Daten in einer Kreislaufwirtschaft gemeinsam nutzen? „Das wird nicht mit Harmonisieren funktionieren, sondern nur mit Übersetzen“, sagt Schneider. Mit GTS hat er eine standardisierte Branchensprache entwickelt, mit der wesentliche Daten entlang textiler Lieferketten automatisiert ausgetauscht werden können.
In der EU-finanzierten Initiative CIRPASS arbeitet GTS gemeinsam mit 30 Partnern an Vorbereitungen zur schrittweisen Einführung eines digitalen Produktpasses, der insbesondere Nachhaltigkeitskriterien berücksichtigt. Zu den drei Schwerpunkten des Projektes zählt der Textil-Bereich. Verbraucher werde der digitale Produktpass ermöglichen, sich verantwortlicher bewegen und entscheiden zu können, so Schneider.
Bewusstseinsveränderungen in der jungen Generation
Ein wachsendes Verantwortungsbewusstsein innerhalb der jungen Generation lässt hoffen. Laut dem aktuellen „Resale Report“ von Online-Secondhand-Händler Thredup sagt global fast die Hälfte der Generation Z, dass sie sich strikt weigert, bei Fast-Fashion- und nicht-nachhaltigen Marken einzukaufen. Darüber berichtet unsere Autorin Tong-Jin Smith ausführlich in diesem Magazin.
Vor zehn Jahren bewirkte die Rana Plaza-Katastrophe einen Aufschrei in den Medien. Heute bieten unterschiedliche journalistische Kanäle durchaus häufiger differenzierte Berichte zur Nachhaltigkeitsaspekte der Modeindustrie und greifen dabei Geschäftsmodelle wie „Fast Fashion“ kritisch auf. Die Modeindustrie ist – als Ganzes betrachtet – auf dem Weg zu nachhaltigeren Wertschöpfungsketten, aber noch lange nicht am Ziel. Das öffentliche Interesse an den Menschen, die unsere Bekleidung verarbeitet haben, darf daher nicht nachlassen.
Achim Halfmann
ist Medienpädagoge (M.A.), Journalist und Sozialarbeiter. Er ist im Bergischen Land zuhause.
achim@csr-news.eu
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