Bayreuth (csr-news) – Menschenzentrierung ist ein ambitioniertes Ziel und ein kostbarer Wert. Der Mensch steht im Mittelpunkt. Es geht darum, Bedürfnisse, Fähigkeiten und Perspektiven von Menschen zu berücksichtigen und sie aktiv in den Gestaltungsprozess von Produkten, Dienstleistungen oder Systemen einzubeziehen. Im Gegensatz dazu liegt bei der Technologiezentrierung der Schwerpunkt eher auf den technischen Möglichkeiten. Damit besteht die Gefahr, dass menschliche Bedürfnisse vernachlässigt werden. Durch die Fokussierung auf den Menschen strebt man also eine bessere Anpassungsfähigkeit, Benutzerfreundlichkeit und insgesamt eine höhere Zufriedenheit der Menschen mit den gestalteten Produkten und Dienstleistungen an.
Was in der Theorie plausibel und banal klingt, ist in der praktischen Umsetzung eine echte Herausforderung. Häufig bleibt es lediglich bei Lippenbekenntnissen, in einzelnen Fällen gerät man auch in den Verdacht von so genanntem socialwashing. Mit den nachfolgenden fünf Thesen möchten wir Gelingensfaktoren zur Diskussion stellen, die sich aus unserer Erfahrung aus nahezu zehn Jahren CDR-Forschung und -Praxis als zukunftsrelevant erweisen könnten.
1. Vom Individuum zum Kollektiv und wieder zurück!
Menschenzentrierung nimmt sowohl das Individuum als auch das menschliche Kollektiv, die Gattung homo sapiens, in seiner ganzen Diversität und Komplexität in den Blick. Die Synchronisierung der Adressaten der Digitalisierung kann über das Prinzip der Universalisierung gelingen. Mit dem Philosophen Immanuel Kant könnte man formulieren: „Handle so, dass du die Menschheit sowohl in deiner Person als in der Person eines jeden anderen jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchst.“
Eine menschenzentrierte digitale Transformation sollte die Einzigartigkeit des Menschen respektieren, ohne das Kollektiv aus den Augen zu verlieren – und umgekehrt.
2. Die Menschenzentrierung darf nicht wertfrei sein!
Wenn alle Welt von mehr Menschenzentrierung in der Digitalisierung spricht, so ist das zunächst mal ohne normativen Impetus: wertfrei. Wenn Unternehmen den Menschen ins Zentrum rücken, kann das aus Sicht des Einzelnen positive oder negative Folgen haben, es kann gut oder schlecht für das Kollektiv oder Teilgruppen des Kollektivs sein. Die Berücksichtigung von menschlichen Bedürfnissen und Perspektiven braucht deshalb flankierend ethische Prinzipien. Es kann beispielsweise darum gehen, Gerechtigkeit, Gleichberechtigung oder Nachhaltigkeit zu fördern. Die Werte, die bei der Anwendung der Menschenzentrierung eine Rolle spielen, können je nach Kontext und Zielen variieren.
Eine menschenzentrierte digitale Transformation sollte die Bedürfnisse, Fähigkeiten und Perspektiven des Menschen in den Blick nehmen und positiv beeinflussen – Schaden sollte vermieden werden.
3. Menschenzentrierung zwischen Selbstbestimmung und Fremdbestimmung!
Wer das Prinzip der Menschenzentrierung in der Digitalisierung implementieren will, um eine positive Veränderung des Menschen zu fördern, darf zugleich die Integrität und Autonomie des Menschen nicht kompromittieren. Es sollte ein Gleichgewicht gefunden werden zwischen der Verbesserung der menschlichen Fähigkeiten und Möglichkeiten durch Technologie und der Wahrung der menschlichen Autonomie und Würde. In diesem Kontext sollte eine menschenzentrierte digitale Transformation die Fähigkeit des Menschen zur Verbesserung und Entwicklung fördern. Der Mensch sollte ermutigt und unterstützt werden, neue Fähigkeiten zu erlernen, Perspektiven zu erweitern und sich aus dieser Motivation heraus an neue Technologien anzupassen.
Eine menschenzentrierte digitale Transformation sollte eine aufgeklärte Einwilligung voraussetzen und zur Weiterentwicklung anregen – Manipulation sowie Pater- bzw. Maternalismus sind zu vermeiden, Fürsorge und Nudging sind ok.
4. Inklusion ist nicht alles oder doch?
Inklusion bezeichnet einen umfassenden Ansatz, der darauf abzielt, allen Menschen gleiche Rechte, Chancen und Teilhabe in allen gesellschaftlichen Bereichen zu gewährleisten, unabhängig von ihren individuellen Merkmalen oder Unterschieden. Das Konzept der Inklusion basiert auf der Anerkennung und Wertschätzung der Vielfalt von Menschen, einschließlich ihrer Fähigkeiten, Geschlechter, ethnischer Zugehörigkeiten, Religionen, sexueller Orientierungen, sozialen Hintergründe und anderer Merkmale. Während Inklusion ein universelles Konzept ist, verschärft die Digitalisierung Inklusionsfragen, es ist aber nicht „Wurzel“ des Themas. Je nach Kontext wird es mal hoch-, mal runterpriorisiert. Technisch ist Inklusion oftmals mit user experience und usability gleichgesetzt. Usability ist eine wichtige Voraussetzung, die Gleichsetzung aber deutlich zu kurz gesprungen.
Technologie kann sowohl Barrieren abbauen als auch neue schaffen, und es ist wichtig, dass eine menschenzentrierte digitale Transformation ein weites Verständnis von Inklusion umfasst, das die individuelle Teilhabe wie auch eine inklusive Wirtschaft einschließt und neben technischen auch soziale, kulturelle und politische Dimensionen berücksichtigt. Es bleibt zu debattieren, ob Inklusion eine Einbahnstraße ist – enthält sie auch die Pflicht zur Teilhabe?
5. Menschenzentrierung ist (k)ein Paradoxon!
Natürlich verändert die Digitalisierung uns Menschen, was sonst? Aber wie verhält sich der Anspruch der Menschenzentrierung dazu? Lehnt er die Veränderung ab? Soll die Veränderung nur im positiven Interesse des Menschen geschehen – aber wie wäre dieses zu definieren? Die anthropologische Frage „Was ist der Mensch?“ ist vorab zu klären. Und darauf: Was sollte der Mensch sein? Eine dynamische Welt braucht auch ein dynamisches Menschenbild, was ist in dieser Dynamik aber das positive Interesse des Menschen? Ansonsten bleibt Digitalisierung immer menschenzentriert – und über die Zeit hinweg ändert sich nur das Verständnis von Menschen. Das Technik-Paradox besagt, dass die Gewinnung neuer Freiheiten und Möglichkeiten durch Technik untrennbar mit Anpassungsleistungen an Technik erkauft wird. Das mag auf den ersten Blick wie ein unüberwindbares Hindernis erscheinen. Aber bei genauerer Betrachtung ist es eher eine Herausforderung. Durch sorgfältige Gestaltung und Regulierung können wir sicherstellen, dass die Technologie neue Freiheiten und Möglichkeiten schafft, ohne dass der Mensch unverhältnismäßige Anpassungsleistungen erbringen muss.
Eine menschenzentrierte digitale Transformation sollte nicht leichtfertig mit der Menschenzentrierung umgehen – letztendlich darf es kein Allheilmittel sein, mit der jegliche technische Entwicklung gerechtfertigt oder verhindert wird. Es sollte vielmehr als wichtiges Prinzip und Werkzeug betrachtet werden, das dazu beitragen kann, die Technologieentwicklung in eine positive Richtung zu lenken. [/content_control]
Prof. Dr. Dr. Alexander Brink
ist Professor für Wirtschafts- und Unternehmensethik im „Philosophy & Economics“-Programm der Universität Bayreuth und und Gründungspartner der Kölner concern GmbH
Dr. Frank Esselmann
ist Mathematiker, Berater für Digitalisierung, CDR-Pionier und Partner der Kölner concern GmbH.
Leonhard Henke
ist Wirtschaftsingenieur und Berater für Digitale Transformation und Nachhaltigkeit der Kölner concern GmbH.