Ratingen (csr-news) – Der Datenwissenschaftler Jürgen Weichenberger begleitet die Entwicklung der Künstlichen Intelligenz (KI) seit Jahrzehnten. Heute er verantwortet das AI Advisory bei Schneider Electric. Für das CSR MAGAZIN sprach Achim Halfmann mit ihm über die Geschichte von KI, Veränderungen in Kundenzentren, Elektrolichtbogenöfen, Wasserstoff, KI-Steuerung und die Vertrauensbildung unter Mitarbeitenden.
CSR NEWS: Herr Weichenberger, sie befassen sich seit vielen Jahren beruflich mit Künstlicher Intelligenz (KI). Welche Entwicklungen haben Sie miterlebt und wo stehen wir heute?
Jürgen Weichenberger: Forschungen zur KI begannen bereits lange vor meiner Zeit, Mitte der 1950er Jahre. Bis Mitte der 70er Jahre wurde das Thema sehr schnell vorangetrieben, dann ist es ein wenig eingeschlafen. Aber schon damals gab es ein großes Interesse an Large Language Models (LLM). Der berühmte Chatbot Eliza wurde zum Beispiel schon 1966 von Joseph Weizenbaum entwickelt. Es gibt nicht wenige in der Branche, mich eingeschlossen, die bis heute der Meinung sind, dass Eliza besser war als alles, was heute mit chatGPT verfügbar ist.
Zwei elementare Voraussetzung für die Wirkmächtigkeit von LLMs haben sich seither allerdings verändert: Zum einen steht uns heute eine brachiale Rechenleistungen zur Verfügung. Damit können wir Dinge tun, die 1966 undenkbar waren. Zum anderen steht im Internet eine enorme digitale Wissensbasis zur Verfügung. Denken Sie nur daran, welche Möglichkeiten für das Training eines LLM bestehen, wenn es nur mit den Texten aus der deutschen und der englischen Wikipedia gefüttert wird. Auch daran war 1966 nicht zu denken.
Also: Technologisch sind wir jetzt dabei, Dinge in die Masse zu tragen, die in den 1960er und 1970er Jahren entwickelt wurden.
Large Language Models erleichtern die Kommunikation von Mensch und Maschine. Welche Perspektiven bietet diese Technologie für den Einsatz in Unternehmen, etwa im Kundenservice?
Insbesondere in Unternehmen, die große Callcenter für ihren Kundenservice benötigen, macht der Einsatz von KI Sinn. Denn meist werden ja immer wieder dieselben Anfragen gestellt. Da können LLMs und Chatbots schon sehr gut drauf antworten.
Dabei geht es aber nicht zuerst um eine Reduzierung der Mitarbeiterzahlen, sondern um eine Verbesserung der Antwortzeiten. Bei Schneider Electric setzen wir KI zum Beispiel im B2B-Kundenservice ein und wollen unsere Antwortzeiten damit auf maximal 24 Stunden begrenzen – unabhängig von der Fragestellung. Noch bis vor einem Jahr haben sich Mitarbeiterteams durch Pi mal Daumen rund 1,2 Millionen Kunden-Emails jährlich gearbeitet und diese beantwortet oder weitergeleitet. Manche Weiterleitung landete dabei in der Mailbox eines Mitarbeiters, der nicht direkt verfügbar war. Das verlängerte die Antwortzeiten.
Heute liest eine KI diese Mails und beantwortet sie entweder direkt oder leitet sie weiter – und zwar nicht blind in irgendeine Mailbox, sondern an einen Mitarbeiter, der tatsächlich verfügbar ist. Das reduziert unsere Antwortzeiten deutlich.
Prozesse werden durch KI besser, werden Sie aber auch nachhaltiger?
Ein Beispiel dafür sind die Teile- und Rohmaterialanforderungen bei Schneider Electric International. Früher wurden solche Bestellungen telefonisch angenommen. Der Logistiker schaute dann zunächst im Lager nach und musste die fehlenden Materialien gegebenenfalls bei einem Zulieferer bestellen.
Heute setzen wir hier KI ein. Wenn also ein Kollege aus unserem Werk in Lexington, USA, Material anfordert, dann prüft die KI den globalen Lagerbestand und findet das Material vielleicht in unserem Werk in Lahr. Zugleich überprüft das Programm, wann dieses Material dort gebraucht wird, und es berechnet den Transportweg in die USA.
Bei der KI-gesteuerten Logistik geht es nicht nur um Kostenreduktion: Nachhaltigkeitsaspekte werden ebenso berücksichtigt, das System vergleicht also etwa die mit einer externen Beschaffung und die mit einem internen Transport verbundene CO2-Bilanz.
Ein großer Vorteil der KI liegt darin, eine Vielzahl an Faktoren zeitgleich berücksichtigen zu können. Ein Mensch kann vier bis fünf Variablen gut parallel handhaben. Bei Aufgabenstellungen wie der zuvor beschriebenen reden wir aber über 30 bis 50 Variablen, die gemeinsam betrachtet werden müssen, um kostengünstige und zugleich nachhaltige Lösungen zu finden.
Eine nachhaltige Produkt- oder Prozessoptimierung werden Sie auch Ihren Kunden anbieten.
Ja, auf jeden Fall. Ein besonders plakatives Beispiel lässt sich zum Beispiel bei der Stahlherstellung finden. Im Sinne des Klimaschutz ist es hier heute schon möglich, auf eine klassische Esse, also eine offene Feuerstelle für das Erhitzen von Metall, zu verzichten. Stattdessen kommt ein Elektrolichtbogenofen zum Einsatz, der die hohen Temperaturen mithilfe von elektrisch erzeugten Lichtblitzen erreicht und somit ohne Gas auskommt. Bei der Steuerung einer solchen Anlage ist es sinnvoll, KI einzusetzen.
Denn klar: Auch die für den Lichtbogenofen erforderliche elektrische Energie sollte nicht aus fossilen Quellen stammen, sondern bestenfalls aus erneuerbaren Energiequellen. Das Problem ist aber, dass die grüne Stromerzeugung von Umweltbedingungen abhängig ist – von der Sonnenstrahlung und dem Wind. Ohne ein beständiges Austarieren von Erzeugung, Bedarf und Speicherkapazitäten könnte damit also keine konstante Versorgung mit Strom und Spannung gewährleistet werden – was aber insbesondere für die Stahlindustrie geschäftskritisch ist. Und genau hier macht der Einsatz von KI-Lösungen Sinn. Denn mit ihnen ist es datenbasiert möglich, Stromflüsse sinnvoll zu lenken, Wetterdaten zu berücksichtigen und gegebenenfalls auch eigene Stromerzeuger auf dem Firmengelände gewinnbringend einzusetzen.
Letztlich geht es dabei dann immer um die Frage, welcher Energiebedarf zu welchem Zeitpunkt gedeckt werden muss. In einem zweiten Schritt gilt es zu berücksichtigen, was Strom zu welchem Tageszeitpunkt kostet. Denn es gibt Zeitpunkte mit negativen Stromkosten, zu denen ein Abnehmer noch Geld erhält. Und es gibt Zeitpunkte mit sehr hohen Stromkosten. Hier gilt es also zu prüfen, ob zu den kostengünstigen Zeitpunkten thermische oder mechanische Speicher mit Strom gefüllt werden können.
Eine Speichermöglichkeit, die ich in diesem Kontext besonders hervorheben möchte, ist grüner Wasserstoff – also Wasserstoff, der mithilfe von grün erzeugter Energie hergestellt wird. Das Thema ist zwar momentan in aller Munde, aber nur wenige Unternehmen haben bisher eine wirklich voll funktionsfähige Anlage im Einsatz. Umso spannender ist daher ein Projekt, das wir gemeinsam mit dem Dortmunder Pumpenhersteller Wilo umgesetzt haben. Um in Sachen Energieversorgung autarker zu werden, bezieht Wilo seinen Strom zum Teil aus eigenen erneuerbaren Quellen, zum Beispiel Photovoltaik und über den Zugang zu einem Windpark. Energie aus dem Netz wird bezogen, wenn sie gratis oder besonders günstig ist. In Zeiten überschüssiger Stromproduktion kommt dann die Wasserstoffanlage zum Einsatz. Mithilfe des nicht genutzten Stroms wird eine Elektrolyse in Gang gesetzt, die aufgefangenes Regenwasser in Wasserstoff und Sauerstoff verwandelt. Der gasförmige Wasserstoff wird in einem Tank gespeichert kann jederzeit zur Rückverstromung über eine Brennstoffzelle genutzt werden. Die entstehende Abwärme geht dabei nicht verloren, sondern lässt sich für die Klimatisierung der angrenzenden Gebäude nutzen. So bleibt der Wirkungsgrad insgesamt sehr hoch.
Für die damit verbundenen komplexen Steuerungsaufgaben haben wir eine KI-basierte Lösung zur Verfügung gestellt, die auf den Wetterbericht achtet, die Effizienz der Photovoltaikanlage im Blick behält, den Füllstand der Wasserstofftanks kennt und viele weitere Daten in Echtzeit berücksichtigt.
Das sind anschauliche Beispiele dafür, was KI zu einer energie-effizienten Produktion beisteuern kann. Nur verbraucht auch KI selbst jede Menge Rechenleistung und Energie …
Ja, da haben Sie recht. Die Rechenzentren, die die Rechenleistung für so performante KI-Technologien bereitstellen verbrauchen jede Menge Energie – vor allem für die Kühlung. Aber, und das ist ja das spannende, auch dafür kann uns die KI wiederum Lösungen bieten. Bei Schneider Electric als einem der weltweit größten Ausstatter für Rechenzentren haben wir uns darüber schon intensiv Gedanken gemacht. Zum Beispiel bieten wir innerhalb unserer Softwaresuite EcoStruxure IT-Expert ein KI-basiertes Benchmarking für Rechenzentrumsbetreiber an, das auf mehr als einhundert Milliarden anonymisierten Datenpunkten basiert. Die KI hilft uns dann, aus diesen Datenmengen individuell nutzbare Erkenntnisse in puncto Performance, Materialpflege oder eben Energieeffizienz abzuleiten. Außerdem unterstützt uns die KI dabei, komplexe Abhängigkeiten zu durchschauen und zu verstehen und darauf basierend zum Beispiel eine optimal auf das Lastverhalten abgestimmte Parametrierung der RZ-Kühlung zu realisieren. Damit lassen sich massiv Energie und Kosten einsparen.
Mit einem der weltweit größten Datacenter-Betreiber arbeiten wir außerdem im Projekt „data center of the future” zusammen; drei weitere sogenannte Hyperscaler sind einbezogen. In unserem Entwicklungszentrum in den USA haben wir dazu ein komplettes Rechenzentrum in einem Labor nachgebaut. Das bietet uns die Möglichkeit, unsere Lösungen am „lebenden Objekt“ zu testen. Im Ergebnis wollen wir eine Reduktion der CO2-Belastung zwischen 30% und 40% erreichen.
Neben aller Technik braucht es am Ende auch Mitarbeitende, die auf diesem Weg mitgenommen werden.
Für uns als Tech-Konzern im Hightech- und Digitalisierungsumfeld ist das eine konstante Aufgabe. Und zwar sowohl bei uns selbst, als auch auf Seiten unserer Kunden. Wir haben die Erfahrung gemacht, dass gerade Digitalisierungsprojekte oft scheitern, weil sie nicht von sinnvollem Changemanagement begleitet werden. Wichtig ist, dass sich der Mehrwert neuer Technologien auch wirklich jedem Mitarbeitenden erschließt, dass intern sinnvoll darüber kommuniziert wird und es einen Sponsor im Unternehmen gibt, der das Projekt konsequent vorantreibt und unterstützt. Wir haben dazu zum Beispiel eine ganz eigene Consulting-Abteilung im Einsatz, die Industrial Digital Transformation Services. Die Kolleginnen und Kollegen dort beschäftigen sich im Grunde mit genau dieser „menschlichen“ Seite der digitalen Transformation.
Gerade in Sachen KI ist dabei eines der wichtigsten Elemente die Vertrauensbildung. Nehmen Sie zum Beispiel den Supervisor im Kontrollraum einer chemischen Anlage. Wenn Sie dem eine KI-Unterstützung installieren, die aus seiner Sicht praktisch eine Black Box ist, dann wird es Zeit brauchen, bis er sich auf die Hinweise der KI verlässt. Denn einerseits wird er vielleicht nicht sofort verstehen, woraus die KI ihre Handlungsempfehlungen ableitet, andererseits wird die KI aber möglicherweise eine Anlagenfahrweise vorschlagen, die der bisherigen Fahrweise diametral gegenübersteht.
Es geht also darum, den Menschen und seine Erfahrungen und sein Wissen mitzunehmen und so die Akzeptanz von KI-Lösungen zu fördern. Der Mitarbeitende muss ein grundsätzliches Verständnis dafür besitzen, warum eine KI eine bestimmte Lösung vorschlägt. Die Einführung mit dem Vorschlaghammer funktioniert nicht.
Haben Sie vielen Dank für das Gespräch!
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