Berlin (csr-news) – So könnte man das Ansinnen des Europäischen Parlaments zur Regulierung der künstlichen Intelligenz auch lesen. Schließlich geht es bei der Regulierung um die Sicherung der grundsätzlichen Werte und Rechte, für die die Europäische Union steht. Insofern scheint eine regulatorische Gesetzgebung aus ethischer Perspektive lobenswert und folgerichtig, zumal dann, wenn man die moralischen Überzeugungen der EU als ethisches Fundament anerkennt.
Neue Technologien bringen Hoffnungen auf Fortschritt und zugleich Ängste vor unbekannten Gefahren mit sich. Das ist an sich nichts Neues, wie man beispielsweise in dem vor über 40 Jahren erschienen „Prinzip Verantwortung“ des Philosophen Hans Jonas nachlesen kann. Die Sorgen und Ängste davor, dass sich neue Technologien verselbständigen und Kräfte entfesseln, die sich durch menschlichen Einfluss nicht mehr einhegen lassen, sind offensichtlich feste Begleiterinnen des technologischen Entwicklungsprozesses. Entsprechend könnte man die kritischen Diskussionen um die Entwicklung der KI als eine aktualisierte und thematisch fokussierte Fortsetzung dessen verstehen, was man seit etwa den 1970er Jahren unter dem Begriff der Technikfolgenabschätzung versteht: nämlich die Beobachtung und Analyse technischer Entwicklungen und die Einschätzung ihrer Wirkungen auf die Gesellschaft und Umwelt.
Zweifellos ist die digitale Transformation, zu der die Entwicklungen in der KI gehören, unter einer gesellschaftlichen Perspektiven zu betrachten. Zu groß ist die Verschränkung von digitaler und physischer Lebenswelt, in der sich die Menschen bewegen. Was in bzw. mit der KI passiert, hat Auswirkungen auf unsere Lebenswirklichkeit. So stellt sich in der Konsequenz die altbekannte und stets aktuelle Frage auch mit Blick auf die KI: „In welcher Gesellschaft wollen wir leben?“ Die Grundwerte und Grundrechte der Europäischen Union stecken als Antwort auf diese Frage einen Rahmen dessen ab, was als ethisch wünschens- und schützenswert in unserer Gesellschaft gilt.
Wenn Grundwerte mehr sein wollen als Lippenbekenntnisse und Papiertiger, dann gehören sie systematisch in einen Ordnungsrahmen, der ihnen Geltung und Wirksamkeit verschafft. Allerdings haben Werte an sich einen sehr abstrakten Charakter. Sie müssen in konkrete Situationen übertragen und angewandt werden. Und sie müssen sich als feste Bezugsgrößen im zeitlichen Prozess der technologischen Weiterentwicklung behaupten und anwendbar bleiben.
Mit dem EU AI Act hat das Europäische Parlament die Regulierung von künstlicher Intelligenz angestoßen. So wirkt die EU im Wortsinn darauf hin, die Entwicklungen der digitalen Möglichkeiten „im Rahmen“ zu halten. Dabei auf unterschiedliche Risikoklassen und Regulierungstiefen einzugehen, erscheint sachlich klug und könnte dem Gedanken folgen, so viel wie nötig, aber so wenig wie möglich zu regulieren.
Es wird sich zeigen, wie die nationalen Parlamente der Mitgliedsstaaten die konkrete Ausgestaltung der EU-Vorlage diskutieren. Nicht zuletzt dürften es immer nur interpretative Balanceakte sein, die zwischen (teilweise konkurrierenden) Werten gefunden werden müssen, beispielsweise zwischen dem Bedürfnis nach Sicherheit und dem Wunsch nach individueller Freiheit. Es ist zu vermuten, dass sich die konkrete Balance dieses beispielhaften Spannungsfeldes von Sicherheit und Freiheit mit dem technologischen Stand, der konkreten Situation und den weiteren technologischen und gesellschaftlichen Entwicklungen ständig neu austarieren muss. Ob die avisierten Regularien des EU AI Act diese inhaltliche und prozessuale Flexibilität haben werden, wird sich zeigen bzw es wird ausgehandelt werden müssen.
Letztlich ist die Zukunft unbestimmt und offen. Gerade bei dem rasanten Fortschritt der künstlichen Intelligenz sind die Folgen schwer absehbar. Ein risikobasierter Ansatz, der bei aller Begeisterung für die digital-technologischen Möglichkeiten die Auswirkungen der Entwicklungen auf Basis der europäischen Grundwerte im Blick hat, kann unerwünschte Dynamiken frühzeitig detektieren und bewerten. Schließlich bestehen in den europäischen Gesellschaften neben Hoffnungen auch reale Ängste und Sorgen der Menschen in Bezug auf die digitale Transformation. Die politischen Diskurse, so könnte man sagen, folgen insofern den faktischen gesellschaftlichen Diskursen. Nicht zuletzt kann umgekehrt die Reibung an der politischen Regulierung dazu beitragen, dass der Diskurs über die mit der KI verbundenen Chancen und Herausforderungen weiter in unterschiedliche gesellschaftliche Bereiche hineingetragen wird und dort eine kritische Meinungsbildung über den verantwortlichen Umgang unterschiedlichster Akteure mit den digitalen Möglichkeiten anstoßen kann.
Kritische Stimmen begleiten die europäischen Regulierungsabsichten hinsichtlich möglicher wirtschaftlicher Nachteile und schlechterer Bedingungen im globalen Wettbewerb für Unternehmen, die in Europa agieren. Auch würden womöglich technologische Entwicklungen in Europa ausgebremst, die sich in anderen politischen Regionen mit weniger Regularien frei entfalten und auch wirtschaftlich besser genutzt werden könnten. Ihrer Logik nach sind solche Einwände nachvollziehbar und vielleicht auch richtig. Der Umkehrschluss indes, dass Regulation per se zu wirtschaftlichen Nachteilen oder technologischem Stillstand führen würde, dürfte nicht haltbar sein. Entsprechendes gilt auch für die Vorstellung, dass das grundsätzlich aufgeklärte, individualistische und freiheitliche Lebensmodell in Europa einfach kostenlos da ist und erhalten bleibt. Ein gewisses Maß an (technologischer bzw. wirtschaftlicher) Regulation könnte der Preis für den Erhalt dieses Lebensmodell sein. [/content_control]
Prof. Dr. Matthias Schmidt
lehrt Unternehmensführung an der Berliner Hochschule für Technik und leitet das „Institut werteorientierte Unternehmensführung“
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