CSR-Wissen Strukturwandel

Von der Industrieregion zur Wissensregion. Strukturwandel im Ruhrgebiet

Mit dem Ende des deutschen Steinkohlenbergbaus im September 2018 endete eine Ära von 150 Jahren Industriegeschichte mit außerordentlichen Wohlstandsgewinnen, aber auch erheblichen Eingriffen in die Naturlandschaft. Für viele Menschen im Ruhrgebiet ist dies kein besonderes Ereignis mehr, da der Rückzug des Steinkohlenbergbaus sich schon lange hinzieht.

Das Ruhrgebiet wurde durch einen Wachstumskern rund um Kohle und Stahl nachhaltig geprägt. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurden die alten Montanstrukturen aufgrund der herausragenden Bedeutung der Grundstoffindustrie für den Wiederaufbau Europas und des Kohlemangels wieder errichtet und das Ruhrgebiet zum schwerindustriellen Zentrum Deutschlands. Zunächst erzielten die Montanunternehmen Wachstumsraten, die deutlich über dem bundesrepublikanischen Durchschnitt lagen, was sich wiederum positiv auf die Lohnentwicklung in der Region auswirkte. Ein hohes Lohnniveau verfestigte aber die sektoralen Strukturen, Nicht-Montanbranchen siedelten sich in anderen westdeutschen Regionen an. In den 1960er Jahren endete die Wachstumsphase des Montansektors, schon seit den 1950er Jahren gibt es Zechenstilllegungen, und die wirtschafts- und beschäftigungspolitische Bedeutung von Kohle und Stahl ging seitdem massiv zurück. Allerdings erschwerten die Dominanz der altindustriellen Montanstrukturen und ihre Beharrungskräfte den Strukturwandel.

Beschäftigungsaufbau wurde seit den 1960er Jahren zunächst vor allem im Bildungs- und Wissenschaftsbereich sowie in der Automobilindustrie (vor allem Opel) realisiert. Seit den 1990er Jahren wurde der Strukturwandel forciert und verstärkt auch Bereiche der mittelständischen Produktionswirtschaft ins Auge gefasst. Heute gibt es neue wirtschaftliche Standbeine und „Leitmärkte“ in der Logistik, Chemie und Gesundheitswirtschaft, aber auch im Bereich der digitalen Kommunikation, Ressourceneffizienz, Informations-, Nano- und Werkstofftechnologien.[1]

Besonders deutlich wird der Strukturwandel im Ruhrgebiet beim Vergleich der Bergbaubeschäftigten und der Studentenzahl. Während im Ruhrgebiet 1960 noch 400.000 Beschäftigte im Steinkohlenbergbau arbeiteten, sind es Ende 2018 nur noch einige wenige, die sich vor allem um die Sicherung der Grubenwässer kümmern. Studenten gab es damals nicht. Die erste Universität, die Ruhr-Universität Bochum, wurde 1962 gegründet; 1965 wurde der Lehrbetrieb aufgenommen. Heute gibt es im Ruhrgebiet gut 270.000 Studenten in fünf Universitäten, einer Kunsthochschule und 13 weiteren Hochschulen sowie über 30.000 Beschäftigte in den Wissenschafts- und Forschungseinrichtungen. Das Ruhrgebiet hat inzwischen europaweit die dichteste Hochschullandschaft.

Die Debatte um den Strukturwandel an der Ruhr hat sich mittlerweile gedreht. Prägten jahrzehntelang Schlagzeilen über hohe Dauerarbeitslosigkeit, Armut und Verödung städtischer Räume den Diskurs, gibt es mittlerweile auch viele positive Nachrichten. Der wirtschaftliche Aufholprozess setzt sich fort, nachhaltige Strategien zur ökologischen Umgestaltung und der integrierten Stadtentwicklung werden mehr und mehr zum Thema [2] und die Hochschulen zum Treiber der Stadtentwicklung. Wir werden auf diese Aspekte im Folgenden eingehen.

Wirtschaftlicher Aufholprozess und ökologische Umgestaltung

Der wirtschaftliche Aufholprozess setzt sich fort. Es gibt wirtschaftliche Kerne mit hoher Spezialisierung und internationaler Sichtbarkeit, wie beispielsweise in den Feldern Gesundheitswirtschaft (mit über 330.000 Beschäftigten), digitale Kommunikation, Logistik oder chemischer Industrie. Im Ruhrgebiet sind heute bereits über 77 Prozent der Beschäftigten im Dienstleistungssektor tätig. Für den Arbeitsmarkt im Ruhrgebiet sind sowohl der Wissenssektor als auch die Gesundheitswirtschaft/sozialen Dienste bedeutsam geworden. [3] Die Dienstleistungslücke ist nicht nur geschlossen, Jobs entstehen mehrheitlich im tertiären Sektor beziehungsweise in „gemischten“ Strukturen. Die Zahl der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten hat sich weiter erhöht, dennoch hinkt das Ruhrgebiet bei einigen zentralen Wirtschaftsindikatoren weiter hinterher.

So liegt in einzelnen Städten, insbesondere im nördlichen Ruhrgebiet, die Erwerbslosigkeit noch immer deutlich über dem Landes- und Bundesdurchschnitt.[4] Betrug die Erwerbslosigkeit 2005 bundesweit durchschnittlich 11,7 Prozent, sind es 2018 nur noch 5,3 Prozent. Im Ruhrgebiet ist sie von über 14 Prozent 2005 auf nunmehr 8,7 Prozent (November 2018) zurückgegangen.

Der tertiäre Sektor ist nicht der alleinige Wachstumsträger, da viele Dienstleistungen weiterhin an industrielle Aktivitäten gekoppelt sind. Gerade anhand der Digitalisierung wird die wechselseitige Durchdringung deutlich (etwa digitale Gesundheits- und Wohntechnologien, urbanes Bauen und Wohnen sowie Logistik). Nachhaltige Produktentwicklungen und damit auch Beschäftigung entstehen immer häufiger an Schnittstellen verschiedener Kompetenzfelder. Dabei ist es uninteressant, ob neue Tätigkeiten dem Industrie- oder Dienstleistungssektor zugeordnet werden, der Strukturwandel hat diese Sichtweise längst überholt. Ob Volkswagen Infotainment mit über 400 Beschäftigten in Bochum zum Dienstleistungs- oder Industriesektor gehört, ist nebensächlich. Wichtig ist, dass sich kreative Unternehmen in Kooperation mit Wissenschaftseinrichtungen im Ruhrgebiet ansiedeln.

Im Bereich der ökologischen Umgestaltung des Ruhrgebiets sind insbesondere die Internationale Bauausstellung Emscher Park (IBA) und der Emscherumbau zu nennen. Letzerer zielt auf eine ökologische Umgestaltung des Flusses. Hier hat die Emschergenossenschaft in den vergangenen 20 Jahren etwa 4,5 Milliarden Euro verbaut: Es wurden vier dezentrale Kläranlagen gebaut, 429 Kilometer Abwasserkanäle neu verlegt und auf 326 Kilometern Gewässer renaturiert. 2021 wird dieses Projekt abgeschlossen sein, und die frühere „Kloake“ Emscher ist vollkommen abwasserfrei, ein gigantisches Projekt ökologischer Sanierung des nördlichen Ruhrgebiets und das größte Infrastrukturprojekt Europas. Weiterhin sind Projekte zur Energie- und Ressourceneffizienz (wie etwa Innovation City) zu nennen. Seit 2009 gilt Bottrop mit der Innovation City als Best-Practice-Beispiel für Klimaschutz und zieht (als traditionelle Bergbaustadt) viele Besucher an, die sich informieren wollen, wie es hier gelingt, durch ökologische Modernisierung bis 2020 fast 40 Prozent weniger CO2 zu emittieren. [5]

Die lange Transformation zu einer Wissensregion

Der Wandel des Produktionssystems in Richtung wissensintensiver Sektoren spiegelt sich gut in den verschiedenen Hochschulen der Region wider. Das Ruhrgebiet ist damit auf dem Weg, von der Region mit dem „Pulsschlag aus Stahl“ zur Wissensregion, in der es viele Hochschulen, Forschungs- und Beratungseinrichtungen gibt. Hochschulen und Forschungseinrichtungen sind eine Grundbedingung für kreative Wissensnetzwerke, allerdings sind sie autonome Organisationen mit spezifischen Kulturen und müssen deshalb sensibel in regionale Innovationsstrategien eingebaut werden. Dies wurde 2018 auch vom Wissenschaftsrat klar formuliert. [6]

Das Vorhandensein von Hochschulen und Forschungseinrichtungen allein reicht nicht aus, um alle Standorte im Ruhrgebiet erfolgreich neu zu positionieren, wenngleich manche Neuansiedlungen die Potenziale des Ruhrgebiets gut demonstrieren können – etwa die Ansiedlung des Bosch-Tochterunternehmens Escrypt in Bochum auf dem Gelände des ehemaligen Opelwerkes, die darauf hinweist, wie wichtig die wissenschaftliche Infrastruktur für die Ansiedlung neuer Unternehmen ist, in diesem Fall das an der Ruhr-Universität profilierte Thema IT-Sicherheit. [7] Die erfolgreiche Fokussierung auf Sicherheit im Internet als ein Zukunftsprojekt wird auch dadurch unterstützt, dass Ende 2018 die Ansiedlung eines neuen Max-Planck-Institutes für Cybersicherheit und Schutz der Privatsphäre in Bochum verkündet wurde. Deshalb sollte weiterhin an der Profilierung von Zukunftsprojekten gearbeitet und eine Strategie der Förderung des Wissensaustausches an den Schnittstellen verwandter Kompetenzfelder verfolgt werden (etwa im Feld der Mobilität oder der Energieeffizienz) – was inzwischen auch ansatzweise in vielen Ruhrgebietskommunen passiert. Insbesondere an den Übergängen werden weitaus bedeutendere systemische Innovationen hervorgebracht als in ihren Kernen, wenngleich auch dort durch die Digitalisierung ein Restrukturierungsbedarf (gerade für kleinere und mittelgroße Unternehmen) entsteht. In Zukunft werden immer mehr qualitativ hochwertige, auf die Kundenwünsche zugeschnittene sowie durch Wissensintensität gekennzeichnete Produkte, eingebettet in eine Fülle von Dienstleistungsangeboten, zu einem Charakteristikum der Wirtschaft werden.

Der Begriff „Wissensregion“ impliziert jedoch mehr als Wissenschaftsregion, die zentral auf die Ausbildungs- und Forschungskapazitäten in Hochschulen und Forschungseinrichtungen zielt. Das Wachstumspotenzial der Wissenschaft soll durch eine aktivierende Standortpolitik und offensive Unternehmensstrategien ausgeschöpft werden, bei denen es nicht mehr zuerst um die kostengünstigere Herstellung des Herkömmlichen gehen kann. Ziel soll vielmehr die Entwicklung neuer Produkte und Dienstleistungen sein. Um aus Wissen wirtschaftlichen Nutzen zu ziehen, kommt es darauf an, relevante Wissensbestände zu identifizieren, sich diese anzueignen, miteinander in Netzwerken zu verknüpfen, dann zu Problemlösungen zusammenzuführen und sie für die Anwendung bereitzustellen und umzusetzen. Diese anspruchsvolle Aufgabe wird jedoch schwieriger dadurch, dass durch die Globalisierungs- und Digitalisierungsschübe der Zeitdruck für die Herstellung neuer Produkte und Dienstleistungen enorm gewachsen ist.

Die Gründungsintensität im Ruhrgebiet ist allerdings sowohl in den innovationsstarken Wirtschaftsbereichen als auch insgesamt gegenüber dem Landes- und Bundesdurchschnitt schwächer ausgeprägt. Trotz politischer Bemühungen seit Mitte der 1980er Jahre konnte die Region diesen Rückstand bislang noch nicht kompensieren. Zwar gibt es hinsichtlich der Quantität inzwischen eine hohe Dichte an Innovations-, Technologie- und Gründerzentren sowie entsprechende Beratungsangebote, aber die Ausgründungsquote aus Hochschulen und damit auch die regionalökonomischen Effekte der Wissenschaftslandschaft sind noch immer vergleichsweise gering.

Expansion des Gesundheitssektors

Es waren nicht die industriellen Sektoren, die in den vergangenen Jahrzehnten verantwortlich für die Schaffung vieler Arbeitsplätze im Ruhrgebiet waren, sondern vor allem gesundheitsbezogene Branchen haben den Strukturwandel geprägt und die Diversifizierung der Wirtschaftsstruktur fortgesetzt. Die Spannbreite reicht von der ambulanten und stationären Versorgung (dem traditionellen Gesundheitswesen) über die Medizintechnik und die Gesundheitshandwerke bis hin zum Servicewohnen für pflegebedürftige Menschen oder der Medical Wellness. Inzwischen arbeiten im Ruhrgebiet knapp 330.000 Menschen in der Gesundheitswirtschaft, das sind rund 19,5 Prozent aller Erwerbstätigen – mehr als der Anteil aller Beschäftigten in den industriellen Kernen. Für die Wirtschaft des Ruhrgebiets haben die Gesundheitsbranchen eine über dem Bundes- und Landesdurchschnitt liegende hohe Dynamik, und die Gesundheitswirtschaft ist ein heimlicher „Gewinner“ des Strukturwandels.

Das Thema „Gesundheit“ wird immer wichtiger, erst recht in der alternden Gesellschaft. An der Debatte um Digitalisierung zeigt sich zudem, dass Gesundheitsthemen eines der bedeutsamsten Anwendungsfelder für High-Tech-Lösungen sind – von Big Data über die Nanotechnik bis hin zu den Biotechnologien. Am Beispiel der Gesundheitswirtschaft kann auch die weit verbreitete These aus der Innovationsforschung belegt werden, dass es nicht mehr die relativ isolierten Schlüsselakteure sind, die kurzfristig neuen Wohlstand und Arbeitsplätze schaffen, sondern vielmehr die Verknüpfung von Akteuren immer zentraler wird. Gerade regionale Innovationsprozesse verlaufen nur dann erfolgreich, wenn die Steuerung von heterogenen Netzwerken in einem räumlichen und sozialen Kontext gelingt, was erhebliche organisatorische Lernprozesse von den Akteuren aus Wissenschaft, Wirtschaft und Politik verlangt. [8] Man kann von einem „neuen“ Strukturwandel sprechen, der sich durch eine wachsende Bedeutung hybrider Wertschöpfungsnetzen auszeichnet und deshalb nicht mit den Instrumenten des „alten“ Strukturwandels im Sinne rigide getrennter Handlungsfelder von Politik und Unternehmen zu bewältigen ist. Nur mit integrierten Konzepten und einer strategischen Intensivierung der Wissensströme zwischen den verschiedenen Akteuren auf regionaler Ebene können die Herausforderungen gemeistert werden. Dies gilt insbesondere für eine traditionell industriell ausgerichtete Region wie dem Ruhrgebiet.

Lebensqualität als Standortfaktor

In einer globalen Wissensgesellschaft hängt die Wettbewerbsfähigkeit eines Wirtschaftsstandortes davon ab, wie attraktiv er sich als Wohnstandort präsentiert. Wenn die Attraktivität des direkten Lebensumfeldes der Bewohner einer Region sinkt, kann dies die wirtschaftliche Entwicklung hemmen. Zum einen gestaltet es sich schwieriger, die von den bestehenden Unternehmen benötigten qualifizierten Ausbildungskandidaten, Fachkräfte und auch Akademiker für eine Arbeit in der Region zu gewinnen. Und zum anderen kann dies auch für die Ansiedlung neuer Unternehmen zu einem dauerhaften Problem werden. Für das Ruhrgebiet ist der im Vergleich zu anderen großstädtischen Ballungsgebieten immer noch niedrige Anteil an Hochqualifizierten somit auch ein Ausdruck für die zuweilen nicht ausreichende Standortattraktivität für diese Arbeitskräfte. Im Hinblick auf die Anforderungen an Arbeits- und Lebensbedingungen von gut qualifizierten Beschäftigten aus der gesellschaftlichen Mitte sind dem Ruhrgebiet zum Teil immer noch Defizite und Imageprobleme zu attestieren.

Ein Problem in diesem Zusammenhang ist die mangelnde finanzielle Handlungsfähigkeit mancher Städte und Gemeinden. Seit 2000 ist für die Ruhrgebietskommunen ein ungebremstes Wachstum der Liquiditätskredite (vormals Kassenkredite) zu konstatieren (ähnlich in Kommunen mit strukturellen Altlasten vor allem in Nordrhein-Westfalen, Saarland, Hessen und Rheinland-Pfalz). Liquiditätskredite sind im Grunde genommen nichts anderes als ein überzogenes Girokonto oder ein Dispokredit, dem keine Werte gegenüberstehen. Sie sind daher ein guter Indikator für die strukturelle Verschuldung im Ruhrgebiet. Dieses Schuldenwachstum hat sich entkoppelt von der Wirtschaftskonjunktur und der Lage in den übrigen nordrhein-westfälischen Kommunen (mit Ausnahme des ebenfalls hoch verschuldeten bergischen Städtedreiecks und einiger weiterer kreisfreier Städte). Mit 3049 Euro je Einwohner entsprachen die Liquiditätskredite 2017 im Ruhrgebiet mehr als dem Sechseinhalbfachen des Durchschnitts der übrigen westdeutschen Flächenländer (453 Euro/Einwohner) und mehr als dem Zehnfachen der ostdeutschen Flächenländer (250 Euro/Einwohner). 30,2 Prozent der gesamtdeutschen Liquiditätskredite der kommunalen Kernhaushalte entfielen auf das Ruhrgebiet.

Seit 2002 erfolgte ein fast linearer Anstieg bis 2012. Ein wesentlicher Auslöser war der massive Einbruch der Steuereinnahmen 2001 bis 2003 bei gleichzeitig stark steigenden Sozialausgaben, die von den ausgezehrten Haushalten der Ruhrgebietskommunen kurzfristig nicht aufgefangen werden konnten. Der steile Schuldenanstieg rief Folgekosten in Form von Zinsen hervor. Seit 2012 flacht der Anstieg immer stärker ab vor dem Hintergrund des von der letzten Landesregierung aufgelegten Stärkungspaktes Stadtfinanzen, aber auch der guten Einnahmenentwicklung aus Steuern und Schlüsselzuweisungen sowie erhöhten Kostenbeteiligungen des Bundes bei den Sozialausgaben. Hätte man 2017 mit der Tilgung dieser Kredite begonnen und dafür 10 Euro je Einwohner eingesetzt würde es dennoch bis zum Jahr 2321 dauern, die Überziehungskredite abzulösen. [9] Hieran erkennt man die Notwendigkeit einer Altschuldenentlastung, die für die Ruhrgebietskommunen die wichtigste Strukturförderungsmaßnahme wäre. Hier sollte die jetzige Landesregierung aktiv werden, ähnlich wie dies auch schon in Hessen, dem Saarland und in Rheinland-Pfalz praktiziert wird. Zudem ist der Bund hier in die Pflicht zu nehmen, da 15,9 Milliarden Euro Liquiditätskredite im Ruhrgebiet schwerlich alleine vom Land bewältigt werden können.

Ein weiteres, schon bekanntes, aber immer noch virulentes Problem sind die nach wie vor vorhandenen Segregationseffekte im Ruhrgebiet. [10] Viele Stadtteile, die ursprünglich gemischt belegt waren, entmischen sich über die Zeit, was objektive Gründe (den Wohnungsmarkt) und subjektive Gründe (symbolische Identifikation) hat. Diese Entwicklungen sind in allen Großstädten zu beobachten. Es gibt Viertel, in denen junge Menschen und Familien die Mehrheit, und andere, in denen sie die Minderheit der Haushalte darstellen. Einwanderer ziehen in der Regel dorthin, wo schon andere Einwanderer gleicher Herkunft leben. Im Vergleich zu anderen Großstädten in Nordrhein-Westfalen leben aber im Ruhrgebiet überdurchschnittlich viele Menschen in Stadtteilen, in der ethnische, demografische und soziale Segregation kumuliert auftreten. Soziale Fragmentierung führt zu sozialer Exklusion und Rückzugsverhalten. Diese Probleme sind mittlerweile erkannt, aber nicht immer leicht abzustellen. Der wichtigste Einflussfaktor sind Investitionen in Bildung, Gesundheit und gesellschaftliche Teilhabechancen. Benachteiligte Sozialräume müssen und werden bereits zum Teil besonders gefördert nach dem Motto „Ungleiches muss ungleich behandelt werden“, allerdings gibt es hier noch einiges zu tun.

Zukunftsvision für das Ruhrgebiet: die ökologisch umgestaltete Wissensregion

Verschiedene Beispiele aus anderen Regionen zeigen, dass der Strukturwandel besser bewältigt wird, wenn der Wandel durch eine „Change Story“ unterstützt wird. Daran mangelt es derzeit noch etwas im Ruhrgebiet. Nach dem Industriezeitalter hat sich zwar eine Wissenschaftslandschaft aufgebaut, der Umbruch wird aber noch zu wenig von überzeugenden Zukunftsentwürfen begleitet. Eine ökologisch umgestaltete Wissensregion, wie oben angedeutet, könnte ein solcher Entwurf sein. Hierzu braucht es weitere mutige Schritte in diese Richtung und noch mehr Kooperation zwischen Kommunen, Hochschulen, Forschungsinstituten und Unternehmen. So sollte die regional oft unübersichtliche Palette an kleineren Technologiezentren, Transferstellen und Beratungseinrichtungen im Umkreis von Universitäten und Hochschulen überprüft und daraufhin relativ rasch Maßnahmen zur effizienzorientierten Bündelung dieser Einrichtungen eingeleitet werden. Denn um eine regionale Kooperationskultur auch außen wirksam zu etablieren, spielt die transparente Organisationsstruktur von Netzwerken und deren Akteuren eine wichtige Rolle. Ohne eine Modernisierung dieser Organisationsformen sind die Herausforderungen schwer zu meistern.

Zudem gewinnen neben den harten die weichen Standortfaktoren in letzter Zeit immer mehr an Bedeutung im Wettbewerb der Regionen. Das direkte Lebensumfeld, die Wohnangebote, aber auch die umliegenden Naherholungsgebiete und die Natur spielen hierbei eine nicht zu unterschätzende Rolle. Das Ruhrgebiet hat frühzeitig die Weichen auf Wandel gestellt und die negativen Altlasten der Montanindustrie nach und nach beseitigt. Die IBA Emscher Park ist nur ein gutes Beispiel, das verdeutlicht, wie erfolgreich der Wandel des Ruhrgebiets als postmontaner Wohn- und Lebensraum verlaufen ist. Hier zeigt sich paradigmatisch ein nachhaltiger, ökologischer Umbau einer traditionellen Industrielandschaft. Dies lässt sich auch an der Renaturierung der Emscher studieren. Die dadurch gewonnene höhere Lebensqualität lässt sich an vielen Orten im Ruhrgebiet beobachten, wo die Renaturierung bereits abgeschlossen ist. Gerade vor dem Hintergrund der ökologischen und demografischen Herausforderungen und Erschöpfungssymptomen bei den traditionellen politischen Institutionen wird der Stärkung der Selbstorganisationsfähigkeit und Eigenverantwortung auf lokaler Ebene eine große Bedeutung beigemessen.

Auch die Quartiersorientierung ist wichtig, wenn sichtbare Verbesserungen der Lebenssituation der Menschen im Ruhrgebiet erzielt werden sollen. Das Quartier ist eine Handlungsebene, die losgelöst von „abstrakten“ Programmen, die nicht selten für einen Großteil der Bevölkerung (insbesondere in benachteiligten Quartieren) eher unsichtbar sind, direkte Verbesserungen und Aufwertungen für die Bewohner nach sich ziehen. Mit einer „reflexiven“ Architektur, die bauliche und infrastrukturelle Elemente mit sozialen Technologien der Gemeinschaftsbildung modellhaft verknüpft, können attraktive Lebensräume gestaltet werden, die sowohl für junge Menschen und Familien als auch für ältere, an Sicherheit orientierte Menschen interessant sind. Um eine offensive Standortpolitik zu etablieren, kommt es zentral darauf an, sie nicht als reaktiv gegenüber Problemlagen zu begreifen, sondern als Hebel für konstruktive und kreative Gestaltungsmöglichkeiten zu verstehen. [11]

Die Wissensinfrastruktur ist im Ruhrgebiet inzwischen weitgehend vorhanden, und auch spezifische Kompetenzfelder haben sich herauskristallisiert. Eine funktionale Differenzierung[12] zwischen den Städten und Branchen wird zunehmend akzeptiert, und das Kirchturmdenken geht, wenn auch langsamer als erhofft, zurück. Zukünftig wird es darauf ankommen, die Projekte zur Energie- und Ressourceneffizienz und insgesamt zur ökologischen Umgestaltung der Region strategisch effizienter in Konzepte der Stadtentwicklung einzubetten. Es wird darauf ankommen, ob eine Vermittlung zwischen den Organisationskulturen der einzelnen Akteure (von den Unternehmen, den Hochschulen, der Verwaltung) nicht nur verbal gelingt, sondern sich auch in funktionsfähigen Projekten und Strukturen realisiert. Zukunftsträchtige Innovationen werden nur noch dann zustande kommen, wenn Ressourcen und Potenziale aus unterschiedlichen Bereichen, Branchen und Betrieben miteinander verknüpft werden. Hier ist strategisches Management gefordert, um die heterogenen regionalen Netzwerke zu erfolgreichen „Treibern“ zu formen. Dies kann in Ruhrgebietsstädten ansatzweise beobachtet werden, muss aber noch stärker kommuniziert werden.[13]

Das Ruhrgebiet ist insgesamt auf einem guten Weg, steht aber dennoch weiterhin vor großen Herausforderungen. Der Strukturwandel geht weiter in Richtung des Aufbaus einer wettbewerbsfähigen ökologischen Wissensregion.

Fußnoten

1. Vgl. Jörg Bogumil et al., Viel erreicht – wenig gewonnen. Ein realistischer Blick auf das Ruhrgebiet, Essen 2012; Prognos AG/InWIS, Lehren aus dem Strukturwandel im Ruhrgebiet für die Regionalpolitik, Berlin 2016; zu den Leitmärkten siehe die fortlaufende Berichterstattung durch die Business Metropole Ruhr, https://business.metropoleruhr.de«.

2. Vgl. Franz Lehner/Hans-Peter Noll, Ruhr: Das Zukunftsprojekt, Essen 2016; Jan Polívka/Christa Reicher/Christoph Zöpel, Raumstrategien Ruhr 2035+: Konzepte zur Entwicklung der Agglomeration Ruhr, Dortmund 2017.

3. Vgl. die Beiträge in Elke Dahlbeck/Josef Hilbert (Hrsg.), Gesundheitswirtschaft als Motor der Regionalentwicklung, Wiesbaden 2017; Rolf G. Heinze/Joachim Lange/Werner Sesselmeier (Hrsg.), Neue Governancestrukturen in der Wohlfahrtspflege, Baden-Baden 2018; Stephan Grohs/Rolf G. Heinze/Katrin Schneiders, Mission Wohlfahrtsmarkt, Baden-Baden 2014.

4. Vgl. jüngst Klaus-Heiner Röhl et al., Die Zukunft des Ruhrgebietes. Wirtschaftliche Lage und Potenziale des größten deutschen Ballungsraumes, Institut der deutschen Wirtschaft, Köln 2018.

5. Vgl. Stefan Scheytt, Schaut auf diese Stadt!, in: Brand Eins 12/2018, S. 24–29.

6. Vgl. Wissenschaftsrat, Empfehlungen zu regionalen Kooperationen wissenschaftlicher Einrichtungen, Köln 2018.

7. Bis 2023 werden auf dem ehemaligen Opel-Gelände insgesamt etwa 6.000 Arbeitsplätze entstehen; das sind doppelt so viele wie zum Zeitpunkt der Schließung der Opelwerke, davon etwa 3.300 mit unmittelbarem Bezug zur Universität.

8. Vgl. die Beiträge in Rasmus C. Beck/Rolf G. Heinze/Josef Schmid (Hrsg.), Zukunft der Wirtschaftsförderung, Baden-Baden 2014; Rasmus C. Beck/Josef Schmid, Regionale Modernisierungspolitik, in: Fabian Hoose/Fabian Beckmann/Anna-Lena Schönauer (Hrsg.), Fortsetzung folgt. Kontinuität und Wandel von Wirtschaft und Gesellschaft, Wiesbaden 2017, S. 139–154.

9. Vgl. Martin Junkernheinrich/Gerhard Micosatt, Kommunalfinanzbericht Metropole Ruhr 2017. Konsolidierung schreitet voran, Tragfähigkeit noch nicht gesichert, Essen 2017, S. 32.

10. Sebastian Jeworutzki/Jörg-Peter Schräpler/Stefan Schweers, Soziale Segregation – Die räumliche Ungleichverteilung von SGB-II-Bezug in NRW, in: Ministerium für Arbeit, Integration und Soziales NRW (Hrsg.), Sozialbericht NRW 2016. Armuts- und Reichtumsbericht, Düsseldorf 2016, S. 405–452.

11. Ein gutes Beispiel für eine innovative Standortpolitik ist das Modellvorhaben „Problemimmobilien“ der Stadterneuerungsgesellschaft Gelsenkirchen, einer Tochtergesellschaft der Stadt Gelsenkirchen, die bisher über 40 „Schrottimmobilien“ in schwierigen Stadtteilen aufgekauft hat, diese neu gestaltet und beispielsweise für studentisches Wohnen öffnet und die Stadtteile damit aufwertet.

12. Funktionale Differenzierung meint die Aufteilung von Tätigkeiten, Aufgaben und Funktionen auf Personen, Organisationen, Städte und andere Einrichtungen, die sich jeweils für diese Tätigkeiten, Aufgaben und Funktionen spezialisieren. In einer funktional differenzierten regionalen Wirtschaft machen also nicht alle das Gleiche, sondern jede Stadt entwickelt für bestimmte Aktivitäten besondere Kompetenzen und günstige Rahmenbedingungen. Vgl. Bogumil et al. (Anm. 1), S. 11.

13. Vgl. die Beiträge in Jörg Bogumil/Rolf G. Heinze (Hrsg.), Auf dem Weg zur Wissenschaftsregion Ruhr. Regionale Kooperationen als Strategie, Essen 2015.

Der Text „Von der Industrieregion zur Wissensregion. Strukturwandel im Ruhrgebiet“ von Jörg Bogumil, Rolf G. Heinze für Aus Politik und Zeitgeschichte/bpb.de ist unter der Creative Commons Lizenz „CC BY-NC-ND 3.0 DE – Namensnennung – Nicht-kommerziell – Keine Bearbeitung 3.0 Deutschland“ veröffentlicht und zuerst > hier erschienen.


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