Deutschlands Wirtschaft verpflichtet sich zu strengeren Verhaltensregeln für an Kinder gerichtete Lebensmittelwerbung. Die neue freiwillige Selbstverpflichtung tritt am 1. Juni in Kraft, wie der Zentralverband der deutschen Werbewirtschaft (ZAW) heute mitteilte. Mit den Verhaltensregeln gingen Hersteller, Handel, Werbeagenturen und Medien demnach „deutlich“ über die gesetzlichen Vorgaben hinaus. So ist es künftig in Deutschland nicht mehr zulässig, positive Ernährungseigenschaften von Lebensmitteln mit viel Zucker, Fett oder Salz in Werbung hervorzuheben, die an Kinder gerichtet ist, wie der Verband erläuterte. Angaben wie „unter Zusatz wertvoller Vitamine und Mineralstoffe“ etwa bei Fruchtgummis oder „hoher Vollkornanteil für körperliche Leistungsfähigkeit“ etwa bei Schokoriegeln sind damit tabu.
Von Achim Halfmann
In Deutschland ist es künftig also nicht mehr zulässig, positive Ernährungseigenschaften von Lebensmitteln mit viel Zucker, Fett oder Salz in Werbung hervorzuheben, die an Kinder gerichtet ist, wie der Verband erläuterte. Angaben wie „unter Zusatz wertvoller Vitamine und Mineralstoffe“ etwa bei Fruchtgummis oder „hoher Vollkornanteil für körperliche Leistungsfähigkeit“ etwa bei Schokoriegeln sind damit tabu. Die direkte Aufforderung zum Kauf oder Konsum eines Produkts muss in der Werbung an Kinder unterbleiben – genauso die Aufforderung, Eltern zum Kauf eines Produkts zu bewegen, wie der ZAW erklärte. Auch Werbung, die den Eindruck erweckt, der Verzehr eines bestimmten Lebensmittels sei für eine ausgewogene Ernährung unersetzlich, ist künftig nicht mehr erlaubt.
Inhalte und Darstellungen, die dem Erlernen eines gesunden, aktiven Lebensstils oder einer ausgewogenen Ernährung entgegenwirken, sind demnach künftig ebenfalls untersagt – also etwa, dass Essen vor dem Bildschirm gezeigt wird oder dass ein Kind soziale Anerkennung wegen eines Produkts erlangt. Zudem setzt die Wirtschaft die bisherige Altersgrenze von zwölf auf 14 Jahre herauf, wie der ZAW mitteilte. Damit würden Minderjährige unter 14 Jahren erfasst, wenn sich Werbung direkt an sie richtet – und zwar unabhängig vom verwendeten Medium oder dem Umfeld der Werbung.
„Die Werbewirtschaft übernimmt Verantwortung“, sagte ZAW-Präsident Andreas Schubert. „Weil die Welt sich stetig weiterentwickelt, überarbeiten wir die Selbstregulierung kontinuierlich sowohl im Hinblick auf den Anwendungsbereich – von der Anzeige bis zum Influencer – als auch auf die Schutzbedürftigkeit einzelner Zielgruppen.“ Der ZAW vertritt die Interessen der werbenden Unternehmen, des Handels, der Medien, der Werbeagenturen sowie der Werbeberufe und der Marktforschung in Deutschland. Seit 2009 gibt es Regeln dafür, dass „in der kommerziellen Kommunikation alles unterlassen wird, was als Aufforderung zu einer übermäßigen und einseitigen Ernährung verstanden werden könnte“.
Druck aus Politik und Zivilgesellschaft
In Deutschland wird die Lebensmittelwerbung in Funk, Fernsehen und sozialen Medien im Medienstaatsvertrag der Länder – und eben in den freiwilligen Verhaltensregeln der Werbewirtschaft geregelt. Die neuen Regeln für die an Kinder gerichtete Werbung werden laut ZAW für sämtliche Medien gelten, also auch für Print und Außenwerbung.
Erst drei Tage vor der ZAW-Mitteilung hatte Bundesernährungsministerin Julia Klöckner (CDU) ihre Forderung nach stärkeren Beschränkungen für an Kinder gerichtete Lebensmittelwerbung bekräftigt. „Werbung darf Kinder nicht dazu verleiten, sich ungesund zu ernähren“, sagte sie der „Passauer Neuen Presse“.
Auch andere gesellschaftliche Akteure – etwa die beiden großen Krankenkassen AOK Bundesverband und Barmer sowie Gesundheitsverbände – hatten sich in den zurückliegenden Wochen wiederholt zu Gesundheitsthemen positioniert und u.a. ein Werbeverbot gefordert. Denn zu Menschen ernähren sich ungesund und Krankheiten wie die Typ-2-Diabetes sind – auch unter jungen Menschen – auf dem Vormarsch.
Die Problemauslöser Zucker, Salz und Fette
Im Oktober 2020 veranstalteten der AOK-Bundesverband, der Berufsverband der Kinder- und Jugendärzte (BVKJ) sowie die Deutsche Diabetes Gesellschaft (DDG) in Berlin einen Zuckerreduktionsgipfel. Dort kritisierte die DDG-Präsidentin Monika Kellerer die Bundesregierung dafür, über freiwillige Vereinbarungen mit der Lebensmittelindustrie den Gehalt an Zucker, Fetten und Salz in vielen Fertiggerichten bis 2025 reduzieren zu wollen. Die freiwilligen Verpflichtungen seien „leider unzureichend, um eine messbare und zielführende Zuckerreduktion zu erreichen“.
Auch Foodwatch-Pressesprecher Dario Sarmadi will Politik weitergehend in die Pflicht nehmen: „Wir fordern wirksame politische Maßnahmen. In den letzten Jahren haben wir gesehen, dass die Industrie es selbst nicht vermag, ihre Produkte ausgewogener zu gestalten. Hier muss die Bundesregierung Rahmenbedingungen und Anreize setzen“, so Sarmadi. Möglich seien etwa steuerliche Maßnahmen wie eine Limonadensteuer oder die Mehrwertsteuerbefreiung von Obst und Gemüse. Sarmadi weiter: „Wir lösen Probleme nicht, indem wir Verbrauchern Einkaufstipps geben. Viel wirkungsvoller ist es, die Umwelt von Verbrauchern so zu verändern, dass sie verantwortungsvolle Entscheidungen treffen können.“
Zur Begründung verweist Sarmadi auf die Auswirkungen falscher Ernährung: „Wir sprechen über eine Epidemie, die neben der Corona-Pandemie vor sich geht, aber schon länger läuft: Adipositas und die damit verbunden Krankheiten wie Typ-2-Diabetes und Herz-Kreislauf-Erkrankungen. Eine wesentliche Ursache von Adipositas – Fettleibigkeit – ist eine ungesunde Ernährung.“
Für den Foodwatch-Sprecher sind Marketingüberlegungen ein Grund für den Status Quo: „Gezuckerte Produkte sind für Unternehmen etwa viermal so profitabel wie Obst und Gemüse. Auch deshalb fällt es den großen Unternehmen so schwer, sich von diesem Portfolio zu verabschieden.“
Gertrud Morlock hat eine Professur für Lebensmittelwissenschaften an der Justus-Liebig-Universität in Gießen inne. Sie sagt: „Wir werden von klein auf an süße und salzige Geschmackserlebnisse gewöhnt. Das Süßempfinden ist assoziiert mit Belohnung. Das Salzige macht Appetit auf mehr. Umerziehung ist harte Arbeit.“ Wer etwa mehrere Tage faste, nehme die Süße ganz neu wahr. Morlock weiter: „Milch zum Beispiel enthält vier Prozent Milchzucker (Lactose), bei Cola sind es elf Prozent Zucker (Saccharose). Nach einer Abstinenzzeit kann man das Letztere auch als unangenehm süß erleben.“
Im Hinblick auf eine gesunde Ernährung sieht die Lebensmittelwissenschaftlerin die ganze Gesellschaft in der Pflicht. „Wenn es um Veränderung geht, sind alle gefordert: die Politik, die Industrie und die Konsumenten selbst. Alle Stakeholder müssen in ihrem Bereich Verantwortung übernehmen. Die Verantwortung alleine auf die Industrie oder alleine auf die Verbraucher zu schieben, wird nicht funktionieren.“ Unternehmen täten bereits einiges. „Allerdings sind Unternehmen profitorientiert, wollen ihre Umsätze maximieren und die Kosten minimieren“, so Morlock weiter.
Zudem verweist die Lebensmittelwissenschaftlerin darauf, dass Zucker nicht nur Süße sei, sondern „auch ein günstiger Füllstoff – in Schokolade oder in Fertigkuchen mitunter bis zu 50%.“ Auch Sara Martin, die Leiterin des Nestlé Public Affairs Teams, verweist auf eine weitere Eigenschaft von Zucker: „Zucker ist nicht nur Geschmack, er ist auch zum Beispiel für die Konsistenz mitverantwortlich.“
Seit 2018 verfolgt das Bundesernährungsministerium eine „Nationale Reduktions- und Innovationsstrategie für Zucker, Fette und Salz in Fertigprodukten„; im Dezember 2020 legte das Ministerium dazu einen Zwischenbericht vor. Bundesministerin Julia Klöckner (CDU) schreibt in ihrem Vorwort: „Ich bin davon überzeugt, dass wir durch eine Kombination aus verhaltens- und verhältnispräventiven Maßnahmen eine gesundheitsförderliche Ernährungsweise vermitteln können – ohne zu bevormunden.“ Verhaltensspezifische Maßnahmen zielen z.B. auf Verbraucherbildung, bei verhältnispräventiven kann es sich um eine gesetzliche Rahmensetzung handeln.
Nestlé will die nationale Reduktions- und Innovationsstrategie unterstützen und zu einer Umsetzung der branchenspezifischen Zielvereinbarungen beitragen. „Bei Cerealien arbeiten wir an der Zuckerreduktion, bei den Pizzen der Marke Wagner an einer Salzreduktion. Unser Ziel ist die schrittweise Reduzierung dieser Inhaltsstoffe und wir prüfen die Zusammensetzungen kritisch. Am Ende müssen unsere Produkte auch bei den Kunden ankommen“, sagt Sara Martin.
Kinder als Werbezielgruppe
Wiederum der AOK Bundesverband beauftragte – gemeinsam mit der Deutsche Allianz Nichtübertragbare Krankheiten (Dank) – die Universität Hamburg mit einer > Studie zur Lebensmittelwerbung und legte deren Ergebnisse im März vor. Danach sehen Kinder pro Tag durchschnittlich 15 Werbespots und -anzeigen für ungesunde Lebensmittel in Fernsehen und Internet. Rund 92 Prozent dieser Werbung beziehen sich danach auf Süßigkeiten oder Fast Food. Dank und AOK nannten das Ergebnis der Untersuchung „erschreckend“ und forderten ein Verbot von auf Kinder zugeschnittener Werbung für ungesunde Lebensmittel.
Bisher sind es freiwillige Erklärungen und Vereinbarungen der Lebensmittel-, Getränkeindustrie und Werbeindustrie, insbesondere der 2007 beschlossene EU-Pledge, die zu einer verantwortungsvollen Werbung gegenüber Kindern und Jugendlichen führen sollen. Nestlé-Expertin Sara Martin sagt: „Auf europäischer Ebene sind wir Gründungsmitglied des EU-Pledge. Der sagt etwas über Maßstäbe für die an Kinder unter zwölf Jahren gerichtete Werbung auf verschiedenen Plattformen, aber nichts über den Point of Sale. Diesen betrachten wir aber in unseren eigenen Vorgaben.“ Zu den Nestlé-eigenen Vorgaben zählen zudem ein vollständiger Verzicht auf Werbung an Kinder unter sechs Jahren und die gemeinsam mit Influencern entwickelten Does und Don’ts für die Influencerwerbung.
Die Wirkung des EU-Pledge sieht Foodwatch-Sprecher Dario Sarmadi kritisch: „Die Wirklichkeit zeigt: Diese Selbstverpflichtung funktioniert sich. Die Industrie vermarktet weiterhin ungesunde Lebensmittel mit Comic-Figuren auf Süßwaren-Verpackungen, mit Werbespots im Fernsehen und mit Social-Media-Stars auf YouTube oder Instagram direkt an Millionen von jungen Fans. Damit torpediert sie die Bemühungen vieler Eltern, ihre Kinder für eine gesunde Ernährung zu begeistern.“
„Lebensmittelampel“ Nutri-Score
Ungesunde Ernährung ist aber nicht nur ein Kinder- und Jugendproblem. Eine andere Krankenkasse, die Barmer, stellte im November ihren „Diabetes-Atlas“ vor. Ergebnis: Diabetes ist in Deutschland auf dem Vormarsch. 2019 waren knapp acht Millionen Menschen von der sogenannten Zuckerkrankheit betroffen – ein Plus von etwa acht Prozent gegenüber 2014. Barmer-Vorstandschef Christoph Straub nannte die Zahlen „alarmierend“ und forderte eine verpflichtende Nährwertkennzeichnung an Lebensmitteln. Gebraucht werde eine verständliche Übersicht zum Beispiel über den Zucker- und Fettgehalt.
Seit Herbst 2020 können Unternehmen in Deutschland laut Bundeslandwirtschaftsministerium den Nutri-Score rechtssicher nutzen – auf freiwilliger Basis. Die „Ampel“ mit fünf Buchstaben und Farben von grün bis rot berechnet auf der Basis der Nährwertangaben für 100 Gramm die Mengen ungünstiger und günstiger Inhaltsstoffe und verrechnet diese miteinander. Dabei wirken sich z.B. Zucker, Salz und gesättigte Fettsäuren ungünstig aus, günstig dagegen Proteine, Ballaststoffe sowie Anteile von Obst, Gemüse und Nüssen.
„Der Nutri-Score ist ein unabhängig entwickeltes Kennzeichnungsmodell, das den Verbraucher auf einen Blick auf der Verpackungsvorderseite über die Nährwertqualität eines Produktes informiert. So ist es z.B. möglich, im Müsli-Regal schnell herauszufinden, welches Müsli das ausgewogenere ist“, sagt Foodwatch-Sprecher Sarmadi.
Nestlé-Expertin Sara Martin weist darauf hin, dass der Nutri-Score Vergleiche innerhalb einer Produktkategorie ermöglicht. „Auf diese Weise können sich Verbraucher einfacher für ein Produkt mit einer besseren Nährwertzusammensetzung entscheiden. Der Nutri-Score macht aber keine Angabe zur Relevanz einer Produktkategorie im Hinblick auf die empfohlene Lebensmittelauswahl. Wir sehen daher Aufklärungsbedarf beim Verbraucher, zu dem wir durch Informationsangebote beitragen möchten.“
Die Einführung des Nutri-Scores sei für Unternehmen arbeitsaufwändig. Martin weiter: „Wir haben uns auf europäischer Ebene bereits im Juni 2019 für dieses Kennzeichnungssystem ausgesprochen und werden es unterstützen. Ende 2019 haben wir dazu einen Fahrplan veröffentlicht und im ersten Quartal 2020 damit begonnen, Produkte in Ländern auszuzeichnen, die den Nutri-Score unterstützen. Unser Ziel ist, bis Ende 2021 alle Marken der vollständig von Nestlé betriebenen Geschäftsbereiche ausgezeichnet zu haben – plus die Cerealien, die wir in einem Joint Venture produzieren.“
Laut der Lebensmittelwissenschaftlerin Gertrud Morlock hilft der Nutri-Score gerade den Verbrauchern, die sich in Lebensmittelfragen weniger auskennen. „Sinnvoll ist, dass der Verbraucher mehr Informationen erhält und sich gut bei seinen Kaufentscheidungen orientieren kann. Die Vielfalt der Lebensmittelprodukte steigt an“, so Morlock.
Die Wissenschaftlerin hat beobachtet, dass bereits die bevorstehende Kennzeichnung einen Einfluss auf die Lebensmittelproduktion hatte. „Im Blick auf die bevorstehende Kennzeichnung arbeitet die deutsche Industrie schon seit gut fünf Jahren an der Reformulierung ihrer Rezepturen. In Lebensmittelprodukten werden Zucker durch Füll- oder Ballaststoffe in Kombination mit Süßstoffen reduziert oder Salz durch Gewürze oder synergistisch-wirkende Zutaten.“ Dabei sei die Verwendung von natürlichen Polysacchariden (Stärke, Inulin, Ballaststoffe etc.) als Füllstoff gesünder als der Einsatz von Mono- und Disacchariden (Glucosesirup, Zucker etc.).
Ernährungsweise als wichtigste Stellschraube
Für die Lebensmittelwissenschaftlerin Gertrud Morlock ist unsere Ernährungsweise die wichtigste Stellschraube. „Der Mensch muss bedachter mit Lebensmitteln umgehen und mehr Geld dafür ausgeben wollen. Wenn er von – teuren – Lebensmitteln einer besseren nachhaltigeren Produktionsweise weniger isst und weniger wegwirft, zahlt er nicht mehr.“ Abwechslung sei das A und O einer gesunden Ernährung. „Zwischendurch mal Wasser trinken und etwas sportliche Betätigung unterstützen eine gute Ernährungsweise.“ Wer erst auf dem Teller salze, könne den eigenen Salzverbrauch um etwa ein Drittel reduzieren, denn das oberflächlich-haftende Salz werde sensorisch stärker wahrgenommen. Morlock weiter: „Wer sich insgesamt vernünftig ernährt, kann auch Schokolade, Kuchen oder Crème brûlée essen.“ Was für Erwachsene ebenso gilt wie für Kinder und Jugendliche.