Corporate Digital Responsibility – kurz: CDR – steht für die ethische Verantwortung von Unternehmen und Institutionen beim Einsatz digitaler Technologien. Dazu und zu einer aktuellen Studie zur CDR in deutschen Unternehmen nehmen der Unternehmensethiker Prof. Alexander Brink und der CDR-Experte Frank Esselmann im Interview Stellung.
CSR MAGAZIN: Herr Professor Brink, Sie leiten einen Lehrstuhl für Wirtschafts- und Unternehmensethik an der Universität in Bayreuth und sind Gründer sowie Partner der concern GmbH, die sich mit Zukunftsthemen wie der Digitalisierung befasst. Warum hat Ethik eine Bedeutung in einer durch Technik dominierten digitalen Ökonomie?
Prof. Dr. Dr. Alexander Brink: Weil Ethik und Technik, Werte und Wettbewerb, Mensch und Maschine sich nicht trennen lassen. Schauen Sie, die Digitalisierung verändert unsere Gesellschaft mit dramatischer Geschwindigkeit. Komplexität und Unsicherheit nehmen zu. Wir haben uns sehr lange mit den ersten drei Facetten der VUCA-Welt befasst (Anmerkung der Redaktion: VUCA steht für velocity, uncertainty, complexity und ambiguity). Der entscheidende Aspekt aber ist die vierte Facette: die Ambivalenz.
Was meinen Sie damit?
Brink: Unser technischer Fortschritt mit seinen vielfältigen Ausprägungen ist in sich tief gespalten und doppelwirksam – er kann Gutes und Schlechtes gleichermaßen bewirken. Ambivalenz bedeutet in der Übersetzung ‚beides gilt‘. Der Astrophysiker Stephen Hawking hat diese Ambivalenz explizit zum Ausdruck gebracht: die Digitalisierung, so sagt er, kann das Beste oder das Schlechteste für die Menschheit bewirken. Hawking hat mich inspiriert, die Ethik ins Spiel zu bringen. Denn Ethik ist die Lehre vom Guten und Schlechten!
Wie kommt man nun von dem Verhältnis von Ethik und Technik zur Corporate Digital Responsibility – kurz: CDR?
Brink: Die Ethik ist die Reflexionstheorie von Moral. Moral ist die Übereinkunft von Normen in einer Gesellschaft, die dem Zusammenhalt und dem Zusammenleben von Menschen dient. Mit der Digitalisierung geht es um mehr als die gegenwärtige Veränderung unserer Gesellschaft – es stehen grundlegende Fragen auf dem Prüfstand, die eine neue Normierung bzw. Vermessung der digitalen Ökonomie verlangen. Ziele, Mittel oder Folgen der Digitalisierung sind nämlich häufig mit moralischen Fragen verbunden, die durch bestehende moralische Traditionen nur unterkomplex beantwortet werden können. Der Trend zur Corporate Digital Responsibility ist vor diesem Hintergrund erst zu verstehen.
Herr Esselmann, als Partner der concern GmbH und Experte für das Thema Corporate Digital Responsibility begleiten Sie Unternehmen auf dem Weg zu einer verantwortlichen Gestaltung der Digitalisierung. Als ‚Praktiker‘ angesprochen: Wie vermitteln Sie den Unternehmen solche Zusammenhänge von Ethik und Technik?
Dr. Frank Esselmann: Das erledigt der Markt heute eigentlich schon selbst: Etwas vereinfacht beschreibt es sich über den Begriff des „Vertrauens“. Sei es das der Kunden oder das der Mitarbeiter – die Umsetzung der Digitalisierung mit ihren enormen und darüber hinaus schwer überschaubaren Konsequenzen wirft für beide Anspruchsgruppen sehr schnell die Frage auf, ob sie den Unternehmen vertrauen. Und das übersetzt sich sehr unmittelbar in die Profitabilität der Geschäftsmodelle, das haben die meisten Unternehmen längst begriffen. Die Herausforderungen liegen viel eher in der Frage des „wie“. Auch für die Unternehmen ist die Digitalisierung ja noch ein sehr neues und unübersichtliches Feld. Man weiß, dass man sich engagieren muss, aber noch lange nicht, wie genau das erfolgen soll.
Wenn man Ethik nur als Restriktion verstehen würde, läuft man damit in eine Sackgasse: Sich heute Entwicklungsmöglichkeiten zu verbauen, ohne zu wissen, wie sich Technologien und Märkte entwickeln werden, kann man vom Management kaum verlangen. Wenn man aber genauer hinschaut, dann sieht man, dass Kunden und Mitarbeiter heute eine echte „Wert“-Schöpfung von Unternehmen erwarten. Diese Werte zu definieren, zu kommunizieren und dann auch konsequent zu leben verbessert die Marktposition. Natürlich engt man hier auch Spielräume ein – aber das tut man mit strategischen Entscheidungen ja immer. Dafür ergeben sich aber ganz neue Chancen. Sei es im Sinne des Shared Value Ansatzes von Porter, indem man tiefere Bedürfnisse befriedigt, oder indem man sich in den heutigen Märkten klarer mit dem „wie“ gegen Wettbewerber abgrenzt. Wir sprechen in Anlehnung an den Strategie-Klassiker von Kim und Mauborgne aus dem Jahre 2004 von einem Blue Ocean der Werte.
Das heißt, dass die Unternehmen eigentlich ähnlich wie in der Vergangenheit arbeiten?
Esselmann: Nicht ganz. In der Umsetzung der Wertorientierung im oben genannten Sinne gibt es zwei neue Herausforderungen: Zum einen muss das Management über Ethik und Moral sprechen. Das ist keine gelernte Praxis – von den Begrifflichkeiten bis hin zu Lösungsmöglichkeiten ist hier meistens etwas Grundlagenarbeit zu leisten. Zum zweiten muss dann die Werteorientierung entlang der gesamten Wertschöpfungskette implementiert werden. Dort gilt es, sehr unterschiedliche Funktionsbereiche in den Unternehmen an der Lösungserstellung zu beteiligen und die hier nicht seltenen Interessenkonflikte aufzulösen. Hier haben die Unternehmen allerdings in den letzten Jahren schon ihre Erfahrungen gemacht: Der große Wandel der letzten Jahrzehnte war und ist ja die Umsetzung der Kundenzentrierung. Viele der dort entwickelten Instrumente können auch bei CDR Themen genutzt werden.
Wie würden Sie aus Unternehmenssicht den Begriff Corporate Digital Responsibility definieren?
Esselmann: Der Begriff Corporate Digital Responsibility wurde im Jahr 2015 von der Unternehmensberatung Accenture durch die Benennung von fünf Anwendungsbereichen geprägt, wie z.B. den verantwortungsvollen Umgang mit Daten durch Datenschutz und Datensicherheit oder die Transparenz über die Nutzung von Kundendaten. Wir haben den Begriff etwas später in die deutsche Debatte eingeführt und plädieren in einem Beitrag der Universität Bayreuth für die Umsetzung von CDR als sogenannte „Shared Value“-Strategy, also als Teil einer Unternehmensstrategie, die sowohl wirtschaftliche Interessen als auch gesellschaftliche Bedürfnisse vereint. Aus Erfahrungen im Bereich der Corporate Responsibility – kurz: CR – haben wir gelernt, dass Unternehmen in digitalen Bereichen nur dann erfolgreich sind, wenn sie zum Beispiel einen Ausgleich zwischen informationeller Selbstbestimmung und datengetriebener Wertschöpfung sowohl für Kunden als auch für das Unternehmen selbst erreichen. Die Definition der CDR-Initiative des Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz, die jüngst ins Leben gerufen wurde, definiert CDR als freiwillige unternehmerische Aktivitäten, die über das heute gesetzlich Vorgeschriebene hinausgehen und die digitale Welt aktiv zum Vorteil der Gesellschaft mitgestalten. Das steht sehr im Einklang mit unserem Vorschlag.
Also gibt es Parallelen zwischen CDR und CR?
Brink: CDR kann als ein Teilbereich einer umfassenden Unternehmensverantwortung verstanden werden. Entsprechend ist der Begriff CDR nicht für die Ewigkeit gedacht, genauso wie die Begriffe Digitalisierung oder Digitale Transformation dann tautologisch und überflüssig werden, wenn diese Prozesse alltäglich und ubiquitär geworden sind und keinen Veränderungsdruck mehr auslösen. Mittelfristig aber ist es für unsere Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung entscheidend, sich mit den ethischen Fragestellungen, die aus technologischen Möglichkeiten und unternehmerischen Entscheidungen in der Digitalisierung erwachsen, auseinanderzusetzen. Auf der Basis müssen dann Antworten gefunden werden, die mit unseren Werten und Grundsätzen übereinstimmen oder diese neu justieren.
Löst sich die CDR dann langfristig in ein neues Verständnis von CR auf?
Wagen wir einen Blick in die Zukunft, so könnte die Definition einer Corporate Responsibility in der Tat als Weiterentwicklung der aktuellen EU-Definition in die digitale Wert neu definiert werden: als Verantwortung im (auch digitalen) Kerngeschäft der Unternehmen für die Auswirkungen ihrer Geschäftstätigkeit. Der Übergang ist also nahtlos, einige Digital-Unternehmen legen ein solches Verständnis bereits implizit zugrunde.
Was ist nun Gegenstand Ihrer aktuellen CDR Studie 2019?
Esselmann: Die CDR Studie 2019 wurde von der Themenplattform Verbraucherbelange des Zentrums Digitalisierung.Bayern in Auftrag gegeben, die vom bayerischen Staatsministerium für Umwelt und Verbraucherschutz eingerichtet wurde. Sie ist nicht mehr, aber auch nicht weniger als eine Pulsmessung, die Auskunft darüber gibt, was die Unternehmen unter Corporate Digital Responsibility verstehen, was sie gegenwärtig tun und wie sie das Thema in Zukunft einschätzen und umsetzen werden. Wir sind tief in die CDR-Prozesse und -Praktiken von Unternehmen eingetaucht. Wir wollten wissen: Was funktioniert, was macht Unternehmen erfolgreich und was hilft bei der verantwortlichen Gestaltung der digitalen Transformation unserer Gesellschaft? Die Ergebnisse werden wir in Kürze in einem Whitepaper gemeinsam mit dem Zentrum Digitalisierung.Bayern veröffentlichen [Anmerkung der Redaktion: Die Autoren haben Eckdaten und Kernergebnisse der Studie dem CSR Magazin bereits vorab zur Verfügung gestellt].
Eine letzte Frage an Sie beide: Was war Ihre persönlich stärkste Erkenntnis aus der CDR Studie 2019? Gibt es etwas, was Sie wirklich überrascht hat?
Esselmann: Ja, wenn wir eine echte Integration von Ethik in die Technik wollen, dann müssen wir die Technik besser verstehen. Dazu müssen nicht nur Techniker ethisch sprachfähig werden, sondern auch Ethik die Techniker verstehen. Unsere Interviews mit Experten aus Banken, Versicherungen oder Netzbetreibern haben das deutlich gemacht. Außerdem müssen wir uns noch konsequenter die Wertschöpfungskette anschauen, die Kundenorientierung stärken und auf die Zukunftsthemen setzen. Hier gilt es, konkrete praktische Instrumente zu entwickeln. Dazu gehören u.a. das Neuromarketing (hier vor allem das nudging), das Lock-in Design oder die Kundensegmentierung. Es geht letztlich immer um den Umgang mit Konflikten, Ambivalenzen und Dilemmata.
Brink: Es ist wie ein Déjà-vu. Als wir in den 1990er Jahren gemeinsam mit Kolleginnen und Kollegen die Wirtschafts- und Unternehmensethik in die deutschsprachige Diskussion eingebracht haben, standen wir vor einer irrsinnigen Aufgabe: den vermeintlichen Widerspruch zwischen Ethik und Ökonomie aufzulösen. Wir haben damals Diskussionen geführt, die tief in das Innerste der beiden Disziplinen gingen. Zehn Jahre später im Wintersemester 2000/01 wurde der erste Studiengang „Philosophy & Economics“ in Bayreuth ins Leben gerufen, der die junge Generation genau auf diese neue Analytik und Perspektive vorbereitet. Und weitere zehn Jahre später, im Jahre 2010, sind wir dann an die Praxis herangetreten. Mit der Gründung von concern begleiten wir seitdem Unternehmen in eine neue Welt, in der Strategie und Werte erfolgreich in Geschäftsprozesse überführt werden können. Die CDR-Studie 2019 – es sind wieder zehn Jahre vorbei – hat für mich deutlich gemacht, dass wir mit der Digitalisierung nun vor den gleichen Herausforderungen stehen wie eine Generation zuvor – nur, dass nun die Technik als dritte Disziplin hinzukommt. Die Herausforderungen sind ähnlich: wir brauchen Forschung, Bildung und Praxis. Auch das hat die Studie gezeigt. Zum Glück haben wir inzwischen gute Erfahrungen, wie man solche Prozesse wertschöpfend moderiert.
Wir danken Ihnen für das Interview!