Die Sustainable Development Goals (SDGs) sind etwas Besonderes: Noch nie hatte sich die internationale Gemeinschaft so intensiv auf ein Maßnahmenpaket vorbereitet, wurde so früh so großer Konsens erzielt, war in allen entwicklungspolitischen Institutionen so viel Aufbruchsstimmung über eine so komplexe Materie zu spüren. Der Aktionsplan für die Menschen, unseren Planeten und den Wohlstand soll universellen Frieden in größerer Freiheit festigen und dabei niemanden zurücklassen.
Von Klaus M. Leisinger
Die Agenda 2030 ist eine anspruchsvolle Reformagenda. Für alle gesellschaftlichen Akteure geht es – in der Terminologie von Andreas Suchanek und seinen Kollegen – um ein neues Spielverständnis im Sinne eines neuen entwicklungspolitischen Paradigmas und um entsprechend neue Spielregeln, z.B. für Investitionsentscheidungen oder den Umgang mit Natur- und Sozialkapital. Jeder Akteur kann sich durch neue Spielzüge Wettbewerbsvorteile verschaffen. Experten, z.B. im UN Sustainable Development Solutions Network, arbeiten seit Jahren intensiv und eng vernetzt an Lösungen; verschiedene Länder, z.B. Deutschland und die Schweiz, arbeiten an nationalen Implementationsprogrammen. Dabei wird hervorragende Arbeit geleistet.
Die Agenda 2030 unterscheidet sich von den Millennium Development Goals (2000-2015) dadurch, dass kein Herrschaftsgefälle zwischen reichen und armen Ländern entstehen soll (im Sinne von: „Wir helfen Euch mit Geld und Technologie bei der Armutsüberwindung“. Das neue entwicklungspolitische Paradigma sieht alle Länder dieser Welt als Entwicklungsländer, weil auch Industrieländer in den letzten 60 Jahren nicht zukunftsfähig gewirtschaftet haben.
Nicht nur die politischen Entscheidungsträger und staatlichen Institutionen werden in die Pflicht genommen, auch Unternehmen als innovativste und effizienteste Akteure der Gesellschaft. Sie sollen
„zur Veränderung nicht nachhaltiger Konsum- und Produktionsmuster beitragen, unter anderem durch die Mobilisierung finanzieller und technischer Hilfe aus allen Quellen, um die wissenschaftlichen, technologischen und Innovationskapazitäten der Entwicklungsländer im Hinblick auf den Übergang zu nachhaltigeren Konsum- und Produktionsmustern zu stärken.“
Von Unternehmen hört man oft, dass ein „business as usual“ nicht ausreiche, um die Agenda 2030 umzusetzen. Glaubt man den Berichterstattungen der Business & Sustainable Development Commission oder PriceWaterhouseCoopers, dann erwähnen über zwei Drittel der großen Unternehmen die SDGs in ihrer Kommunikation. Die Motive sind, einen Beitrag zur Agenda 2030 zu leisten, das Erhalten der gesellschaftlichen Akzeptanz, Vorwegnahme zukünftiger Regulierung, Risikomanagement, neue Märkte sowie Reputationsgewinne. Sucht man jedoch nach konkreten Informationen zu konkreten Maßnahmen, findet man nicht allzu viel – obwohl die ins Haus stehenden Veränderungen mindestens so komplex sind wie die der Digitalisierung.
Bei Unternehmen wird einmal mehr der Unterschied zwischen Leadership und Followership sichtbar: Wo aufgeklärte Führungspersönlichkeiten die Herausforderungen der Agenda 2030 ernst nehmen, fanden Klausuren mit Top Management und Experten statt, in denen man die 17 Ziele und die 169 Targets darauf hin analysierte, bei welchen Forderungen man sich stark fühlt und wo schwach, aus welchen der 169 Targets für das Unternehmen neue Chancen entstehen und welche das Geschäftsmodell bedrohen. Die Ergebnisse wurden dann umgesetzt in strategische Anpassungen und, wo erforderlich, mit neuen Richtlinien, neuen Codes of Conduct, angepassten Zielsetzungen und Kriterien für die Mitarbeiterbeurteilung sowie neuen Bonuskriterien unterfüttert.
Good Practices heißt: Das neue Spielverständnis wird intern und extern erklärt, die neuen Spielregeln werden kommuniziert und eingeübt, auf Dilemmata wird hingewiesen und für Rückfragen eine Anlaufstelle geschaffen. Da man bei solch komplexen Veränderungen möglichst alle Firmenmitglieder mitnehmen muss, sollten Beschäftigte aller Hierarchiestufen dazu eingeladen werden, sich bei der Entscheidung über die praktischen Aspekte der Veränderungsprozesse einzubringen – und sie sollten gehört werden. Diese Anforderungen machen ein neues Persönlichkeitsprofil von Führungspersönlichkeiten notwendig, die die Kunst der verantwortungsvollen Führung beherrschen und daher anspruchsvoller agieren als Manager. Die Suche nach low-hanging fruit ist strategisch und zur Motivation wichtig. Die Vielzahl der Targets bietet jedem Unternehmen die Gelegenheit, beim Handeln und Kommunizieren diejenigen hervorzuheben, bei denen man bereits gut aufgestellt ist. Das ist kein Problem, wenn das nicht alles ist: Die Kommunikation über frühe Erfolge und erfreuliche Opportunitäten sollte begleitet werden durch Hinweise, wo es schwieriger wird, wo man die Zeit bis zum Zieljahr 2030 ausschöpfen muss. Guter Kommunikationsbrauch ist, regelmäßig über die Fortschritte zu berichten, aber auch über Schwierigkeiten, Widerstände und Hemmnisse, um die öffentlichen Erwartungen realistisch zu halten.
Schwierig wird es für Unternehmen, die Geschäftsfelder aufgeben müssen, weil sie inkompatibel mit dem Geist der SDGs sind und – zumindest in Ländern mit good governance – früher oder später gegen SDG-kohärente Gesetze verstoßen. Davon betroffen könnten etwa die Erdölindustrie sein, Kohlestromproduzenten, Hersteller von Plastikverpackungen oder von Produkten, die nach einmaligem Gebrauch weggeworfen werden. Das Politikproblem: ökologische Fortschritte können mit sozialen Nachteilen verbunden sein – das wird schon heute bei der Umstellung von Verbrennungsmotoren auf Elektromotoren sichtbar.
Dass die Agenda 2030 Umstellungsschwierigkeiten mit sich bringen wird, war ihren Verfassern klar – daher auch der zur Anpassung verfügbare Zeithorizont von 15 Jahren. Deutschland oder die Schweiz werden andere Probleme haben als beispielsweise Bangladesch oder der Sudan. Daher werden sich auch Umfang, Inhalt und Richtung der Entwicklungszusammenarbeit entsprechend verändern müssen. Während es bei den einen um Wohlstand light oder sophisticated modesty geht, geht es bei vielen Ländern Südasiens, Afrikas südlich der Sahara und des Mittleren Ostens ums Überleben. Dort muss die Produktivität der Landwirtschaft steigen und die Ernährung sichergestellt werden, auch um die Verstädterung zu verlangsamen. Grüne Industrien müssen aufgebaut werden und Zugang zum Weltmarkt erhalten; Löhne müssen fair sein, um soziale Breitenwirkungen zu erzielen, etc. Dies alles auch, um die Flucht- und Migrationsursachen zu beseitigen. So oder so gilt die Aufforderung, die Ernst Ulrich von Weizsäcker als Titel seines neuen Buches verwendet: „Wir sind dran“ – wer breitere Schultern hat, muss mehr tragen.
Die Agenda 2030, ihre Konsequenzen für jeden einzelnen von uns – beruflich und privat –müssten in Schulen, an Universitäten, in Unternehmen, in den Medien und von allen Akteuren der Gesellschaft viel intensiver diskutiert werden, damit mehr Menschen wissen, was für uns alle auf dem Spiel steht und was jeder von uns tun kann. Menschen haben die Wahl, durch Erleuchtung zu lernen – oder durch Schmerz.
Weiterführende Literatur / Links
- Business & Sustainable Development Commission: Better Business, better World. (>> Link)
- GRI / UN Global Compact / WBCSD: SDG Compass: The Guide for Business Action on the SDGs (>> Link)
- Leisinger K.M.: Die Kunst der Verantwortungsvollen Führung. Haupt Verlag, Bern 2018.
- PWC: Make it your business: Engaging with the Sustainable Development Goals. (>> Link)
- Sustainable Development Solutions Network (>> Link)
- United Nations: Transformation unserer Welt: Die Agenda 2030 für Nachhaltige Entwicklung. New York 2015. (>> Link)
- Weizsäcker E.U. / Club of Rome: Wir sind dran. Was wir ändern müssen, wenn wir bleiben wollen. Gütersloher Verlagshaus 2017.
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Klaus Leisinger ist Gründer und Präsident der Stiftung Globale Werte Allianz, lehrt und forscht als Professor für Soziologie über Corporate Responsibility, Unternehmensethik und Nachhaltige Entwicklung und dient der UNO als Senior Advisor.