Berlin (csr-news) – Die Novemberausgabe des CSR MAGAZIN beschäftigt sich u.a. mit dem Thema Digitale Ethik. Dazu veröffentlicht CSR NEWS eine Serie von Experteninterviews online. Hier das Gespräch mit Lena-Sophie Müller, Geschäftsführerin der Initiative D21.
CSR NEWS: Im August haben Sie mit Ihrer Arbeitsgruppe Digitale Ethik einen „Denkimpuls Digitale Ethik“ in die Diskussion eingebracht. Was wollen Sie erreichen und welche Reaktionen erleben Sie?
Lena-Sophie Müller: Fragen der digitalen Ethik stellen sich fast in allen Wirtschaftszweigen und Lebensbereichen, aber die Diskussion wird bisher zu wenig in der Breite geführt. Die in dem Impuls angesprochene Grundfrage lautet: Was ist das Ethische im Digitalen und wie beeinflusst das Digitale das Ethische? Wir sprechen über ethische Entscheidungen, die an und für sich nicht neu sind. Nehmen Sie die viel diskutierte Frage zum autonomen Fahren: Wenn ein Auto ausweichen muss und links eine alte Dame, rechts ein Kind steht – wie entscheidet das Fahrzeug? Eine ähnliche Frage stellte sich in der Vergangenheit etwa bei der Rettung Schiffsbrüchiger, wenn der Retter zwei Hände ausstrecken konnte, aber vier Personen im Wasser trieben. Die Frage ist nicht neu, in den veränderten Dimensionen brauchen sie allerdings eine neue Bewertung.
Ein reges Interesse an unserem Papier erleben wir vor allem in Wirtschaftszweigen, in denen auch bisher ethische Themen eine hohe Bedeutung besitzen, etwa in Medizin und Medizintechnik. Und auch von den Kirchen kamen zahlreiche Rückmeldungen.
Was ist neu an den digitalen Dimensionen?
Neu ist etwa das Ausmaß und die Geschwindigkeit, mit der wir Daten verarbeiten können – Stichwort Datifizierung. Sensible und in vielen Lebensbereichen gegenwärtige Sensoren erzeugen eine Vielzahl an Daten. Durch ausgefeilte Algorithmen werden neue Formen der Automatisierung möglich. Durch globale Vernetzungen werden Entscheidungen an einem Ort getroffen – und die Handlung erfolgt an einem anderen. Und es entstehen neue Formen der Mensch-Maschine-Interaktion. Solche veränderten Handlungsoptionen erfordern eine neue gesellschaftliche Bewertung.
Und das in nicht allzu ferner Zukunft.
In manchen Bereichen ist die Digitalisierung bereits weit fortgeschritten. So ist etwa das autonome Fahren in der Landwirtschaft bereits Realität. In Landwirtschaft hierzulande sind autonome Mähdrescher unterwegs. Stoppen sie vor einem Rehkitz, vor einer Katze und auch vor einem Hamster? Wie sind sie programmiert?
Oder nehmen Sie die Einführung von Assistenzrobotern wie Pepper. Der humanoide Roboter ist niedlich anzusehen und kann mit Menschen sprechen, ihre emotionalen Zustände analysieren und darauf reagieren. Positiv formuliert kann Pepper die Selbstbestimmung alter Menschen stärken und Pflegeinstitutionen von einfachen Routinetätigkeiten entlasten, indem er im Seniorenwohnraum das Licht oder den Fernseher einschaltet und die Heizung reguliert. Er könnte auch so programmiert werden, dass er Senioren überwacht – etwa in Bezug auf die Einhaltung des Rauchverbotes. Oder, im Gegenteil, dass er heimliche Raucher vor dem Entdecktwerden schützt.
Menschen tendieren dazu, die Digitalisierung in all ihren Ausführungen anzunehmen, wenn sie für sich einen Nutzen darin sehen. Wir wollen auf die ethischen Entscheidungen hinweisen, die es zu treffen gilt und unterstützen, dass der ethischen Kompass, der uns bei Entscheidungen hilft, auch in der digitalisierten Welt zukünftig funktioniert. Dafür bedarf eines Verständnisses, was sich durch das Digitale verändert. Im Grunde geht es um die Frage: Wie wollen wir in Zukunft leben?
Schauen wir uns weitere aktuelle Beispiele an, etwa die Diskussion um Facebook und die Fake-News.
Facebook arbeitet bei der Vermeidung von unzulässigen Posts und Kommentaren mit Algorithmen. Algorithmen können vieles, aber sie stoßen auch an Grenzen – etwa in der Semantik. Die innere Logik mancher Sätze lässt sich nicht maschinell entschlüsseln. Deshalb setzt Facebook auch auf Personal, das Falschmeldungen löschen soll. Dabei handelt das Unternehmen haarscharf an der Grenze zur Meinungsfreiheit entlang. Wenn ein Unternehmen einen klar als Falschaussage zu belegenden Post löscht, habe ich damit kein Problem. Aber wie steht es mit der Entscheidung darüber, ob eine Aussage noch von dem Recht auf Meinungsfreiheit gedeckt wird oder nicht? Sollten das wirklich Unternehmen entscheiden oder muss das nicht hoheitliche Aufgabe der Judikative sein? Anderseits ist es praktisch unmöglich, alle solche Kommentare und Posts von Richtern und Richterinnen bewerten zu lassen. Hier fehlt noch eine abschließende Antwort.
Wie steht es um die Online-Werbung: Wann ist sie OK und wann unzulässige Beeinflussung?
Werbung ist immer Beeinflussung, sie soll den Empfänger zu einer Kaufentscheidung führen. Zum einen muss sie eindeutig als Werbung zu erkennen sein. Und es dürfen keine falschen, also klar unwahre, Aussagen getätigt werden. Um die deutliche Kenntlichmachung von Werbung steht es bei manchen sogenannten „Influencern“ auf Instagram oder YouTube schlecht. Es reicht nicht, dass mit einem Hashtag #Ad (kurz für advertisement, engl. Für Werbung) unter dem Bild auf die dort betriebene und bezahlte Produktwerbung hingewiesen wird.
Ein weiteres Thema sind die enormen Möglichkeiten des Neuro-Marketings. Über Eye-Tracking und die Emotionsanalyse können sozusagen Gehirne ausgelesen werden und es kann erfasst werden, was der Mensch bewusst und unbewusst erfasst. Das ist gerade für die Optimierung der Nutzerfreundlichkeit ein sehr hilfreiches Mittel. Aber Unternehmen haben damit auch ein sehr mächtiges Instrument an der Hand und es gilt zu klären, was erlaubt sein soll – und was nicht.
Der Rechtsstreit um die sogenannten App-Blocker hat gezeigt, wie sehr Online-Werbung mit dem Geschäftsmodell vieler Websites verknüpft ist. Darf ich Werbung ausblenden? Für mich ist es unethisch, wenn ich mich Werbung nicht entziehen kann.
Für Unternehmen stellt sich eine weitere Herausforderung durch die sogenannten Bundles, mit denen Anzeigen auf verschiedenen Websites ausgespielt werden. In welchem Umfeld darf meine Werbung erscheinen und wo nicht? Werbung für Risikoprodukte auf jugendaffinen Sites? Werbung für Gasschatullen auf der Website einer extremistischen politischen Gruppierung? Da sind manche unethischen Konstellationen denkbar, Unternehmen müssen dafür ein Auge haben.
Auch der Bildungssektor wird zunehmend digitaler.
Mit Algorithmen kann das Lernverhalten eines Kindes sehr genau analysiert werden, um es dann individuell besser zu fördern. Kann es beispielsweise eine Mathematik-Aufgabe besser lösen, wenn sie mit Bildern gestellt ist, als Text oder mit Zahlen? Bildungsprozesse lassen sich über das eLearning deutlich optimieren und individualisieren. Das muss aber transparent erfolgen. Und hier steht dem optimierten Lernweg auch die Privatsphäre des Kindes gegenüber. Das muss gut abgewogen werden.
Bei all diesen Fragen geht es also darum, wer was in Zukunft erlauben oder verbieten soll?
Zum einen: In der Ethik gibt es kein einfaches Richtig oder Falsch, ein klares Ja oder Nein. Vielmehr geht es um Entscheidungskorridore, um Leitplanken für unsere Handlungen, die sich bei neuen Themen in einem öffentlichen Diskurs neu herausbilden müssen.
Nehmen Sie das Beispiel Schwangerschaftsabbruch: Nach einer langen gesellschaftlichen Diskussion hat die Politik eine Entscheidung getroffen und bestimmt, bis zu welchem Schwangerschaftsmonat ein Abbruch rechtlich erlaubt ist. Solche Entscheidungen stehen in vielen Bereichen des Digitalen noch aus. Solange Unternehmen sich in einem gesellschaftlich akzeptierten Rahmen bewegen, ihren Code of Conduct befolgen und transparent informieren, und solange der Nutzer in der digitalen Welt selbstbestimmt handeln kann, sind politische Rahmensetzungen entbehrlich. Wenn Ermessensspielräume überschritten werden oder das Kräfteverhältnis zwischen Unternehmen und den Nutzern ihrer digitalen Angebote in eine Schieflage gerät, muss Politik handeln. Nicht immer muss eine Regulierung erlassen werden – aber der Diskurs muss befördert werden, damit sich ein deutlicher ethischer Entscheidungskorridor in der Gesellschaft herausbildet, an dem sich alle Akteure orientieren können.
Hat eine nationale Diskussion angesichts der Global Player der Digitalwirtschaft denn überhaupt einen Einfluss?
Ja und Nein. Sie hat einen Einfluss, das sehen Sie am Beispiel von Google Street View. Anders als in anderen europäischen Ländern wurde dieser Dienst in Deutschland eingestellt. Hierzulande gab es aufgrund unserer regional geprägten Kultur zu viele Klagen der betroffenen Bewohnerinnen und Bewohner. Und Nein: Natürlich brauchen wir die supranationale Ebene, etwa die Institutionen der europäischen Union. Wenn 2018 über die Datenschutzgrundverordnung EU-weit das Marktortprinzip eingeführt wird und die am Wohnort geltenden gesetzlichen Regelungen für die Nutzung eines digitalen Angebotes gelten, ist das ein wichtiger Fortschritt.
Wie steht es um die Kompetenzen der Nutzenden digitaler Angebote?
Viele treffen ihre Entscheidungen in der digitalisierten Welt mehr aus einem Bauchgefühl, denn aufgrund von fundiertem Wissen – das ist auch völlig normal – wir können nicht alles bis ins Detail wissen. Beispielsweise wird ein Dienst genutzt, weil ein Unternehmen als renommiert gilt. Oder es gilt: „Das machen ja alle.“ Man schenkt Vertrauen. Das führt aber auch dazu, dass Unternehmen in einer großen Verantwortung sind.
Die sogenannte 3. Welle der Digitalisierung rollt über uns hinweg – mit dem Internet der Dinge, der künstlichen Intelligenz und noch mehr Sensorik und Datenverarbeitung. Das bringt viele neue und komplexere Dienste und auch Fragestellungen für die Gesellschaft mit. Jeder und Jede sollte sich informieren und reflektiert fragen: Was möchte ich einem digitalen Assistenten wie Alexa oder Homepod in meinem Wohnraum gestatten? Wo unterstützt mich das System, wo tritt es zu weit in meine Privatsphäre ein? Treffe ich Entscheidungen aus einem gesunden Bauchgefühl oder gar aus fundiertem Wissen, oder aus Angst, weil ich bestimmte Vorgänge vielleicht nicht verstehe? Wie möchte ich in Zukunft leben? Die Entwicklung der Digitalisierung geht weiter und bringt viele Chancen aber auch Herausforderungen. Aufzuhalten ist sie nicht. Aber wir können sie positiv mitgestalten.
Ein großer Schritt wäre erreicht, wenn junge Menschen und ihr Lehrpersonal in der Ausbildung entsprechende Kompetenzen für die digitalisierte Welt an die Hand bekämen. Etwa dazu, wie Inhalte aus dem Internet zu interpretieren sind oder wie in der digitalen Welt kommuniziert wird. Denn die digitale Kommunikation etwa folgt – aufgrund des fehlenden unmittelbaren Feedbacks – anderen Regeln als die analoge. Wer die Grundlogiken des Internet verstanden hat und beispielsweise die Server-Client-Kommunikation versteht, den kann sein Wissen im Beruf und im Privaten als Grundlage für ethische Entscheidungen nutzen. Dabei geht es nicht darum, technischen Fortschritt negativ darzustellen, es geht vor allem um die selbstbestimmte Nutzung der Chancen.
Herzlichen Dank für das Gespräch!