Tübingen (csr-news) > In der Debatte um eine Neuausrichtung der Wirtschaftswissenschaften hat der Philosoph und Wirtschaftsethiker Professor Claus Dierksmeier gefordert, moralische Prinzipien wieder ins Zentrum ökonomischen Denkens zu rücken. „Wirtschaftsethik muss von einer Seitenbegrenzung zu einer ganzheitlichen und strategischen Dimension der Wirtschaftstheorie avancieren“, erklärt Dierksmeier, Professor für Wirtschafts- und Globalisierungsethik an der Universität Tübingen in seinem neuen Buch „Reframing Economic Ethics. The Philosophical Foundations of Humanistic Management“. Dieses Umdenken müsse sich auch in der akademischen Lehre der Wirtschaftswissenschaften widerspiegeln.
Seit 2008 stecke die Weltwirtschaft in der Krise – und mit ihr auch die Wirtschaftswissenschaft, sagt Dierksmeier, der auch das Tübinger Weltethos-Institut leitet. Die Öffentlichkeit frage, warum Ökonomen die Krise nicht vorhersahen; Forscher zweifelten an der Praxistauglichkeit ihrer Modelle; Studierende der Wirtschaftswissenschaft würden die Lehrinhalte ihres Studiums in Frage stellen: „Immer mehr Studierende streiten für eine Reform der Lehre, sie wollen mehr Pluralität und fordern, dass ihr Fach einen Beitrag zur Transformation der Gesellschaft in Richtung auf moralische, soziale und ökologische Nachhaltigkeit leisten müsse.“
„Die Betrachtung des Wesens und der Werte des Menschen lag für mehr als zweitausend Jahre im Zentrum des wirtschaftlichen Denkens, vom Altertum bis ins späte 18. Jahrhundert“, betont Dierksmeier. Selbst Adam Smith als Vordenker der freien Marktwirtschaft und des freien Handels bilde hier keine Ausnahme: „Das wirtschaftliche Denken war für mehrere Tausend Jahre fest mit metaphysischen, theologischen und moralischen Überlegungen verbunden.“ Ohne Moral funktioniere kein Markt. Werte und Normen müssten daher auch Thema der Wirtschaftswissenschaften sein.
In den vergangenen 200 Jahren sei Ethik dagegen weniger als Grundlage des Wirtschaftens, sondern zunehmend als dessen Begrenzung empfunden worden. In den Vordergrund gerückt wurden die Profite, moralische Ansprüche rückten an den Rand der wirtschaftlichen Praxis. Hier sei ein Umdenken dringend geboten. Die Wirtschaftswissenschaft dürfe nicht länger mechanistisch, sondern müsse humanistisch orientiert sein – auch und gerade in ihren Methoden. „Warum sollten die Wirtschaftswissenschaften als Fach, in dem das menschliche Verhalten erforscht wird, Modelle bevorzugen, die die Dynamik unbelebter Objekte nachbilden? Warum setzt man nicht besser Methoden zur Interpretation lebendiger Interaktionen freier Individuen ein?“, fragt der Autor.
Analysiere die Wirtschaftswissenschaft nicht nur den fiktiven „Homo oeconomicus“, sondern nehme die „Conditio humana“ in den Blick, so werde klar: Viele Menschen wollen verantwortlich wirtschaften. „Oft begrenzt die Moral keine Geschäftsmodelle, sondern macht sie erst möglich, indem sie Unternehmer auf nachhaltige Strategien führt, mit denen sich im doppelten Sinne des Wortes ‚anständig wirtschaften‘ lässt“, sagt Dierksmeier. Darin liege auch ein Geschäftsnutzen von Ethik. Eine strategische Ausrichtung des Geschäfts auf die Lösung gesellschaftlicher Probleme verspreche die Eroberung neuer Geschäftsfelder durch innovative Produkte und Leistungen. „Wo Prinzipien vorangehen, werden Profite folgen“, meint der Wissenschaftler. „Insofern lassen sich Gewissen und Gewinn, Moral und Markt miteinander vereinbaren.“