Berlin (csr-news) – „Unternehmen, die sich ernsthaft mit CSR beschäftigen, sollten auch einen Blick zurück werfen“, sagt Prof. Annette Kleinfeld, stellvertretende Vorsitzende des Deutschen Netzwerk Wirtschaftsethik (DNWE). Das gilt umso mehr für Unternehmen, die selbst oder deren Vorläufer in Tötungen und Menschenrechtsverletzungen verstrickt waren – wie der Spezialchemieproduzent Degussa, aus dessen Produktion das in den Gaskammern von Auschwitz eingesetzte Zyklon B stammte. Was bedeutet Corporate Historical Responsibility für Unternehmen heute? Darüber sprach CSR NEWS mit Historikern und Wirtschaftsethikern.
Corporate Historical Responsibility gilt als ein Bereich gesellschaftlicher Unternehmensverantwortung. „Dieser Aspekt der CSR ist bei den aktuellen Diskussionen allerdings ins Hintertreffen geraten“, so Kleinfeld Das liege auch an einem zu technischen Verständnis von CSR, das sich an der Risikominimierung orientiere, die Frage nach der ethisch-moralischen Verantwortung jedoch kaum berücksichtige. So finde sich etwa in den Richtlinien der Global Reporting Initiative (GRI) kein Hinweis auf die historische Verantwortung von Unternehmen.
Dabei könne ein Blick auf eine „Mittäterschaft“ in der Unternehmensgeschichte den Firmen helfen, ähnliche Risiken in der Zukunft zu erkennen. Kleinfeld weiter: „In ihren Selbstdarstellungen berichten Unternehmen durchaus zu ihrer Vergangenheit und stellen das Besondere und das gesellschaftliche Engagement heraus.“ Dabei biete sich gerade der Nachkriegsgeneration die Chance, auch kritische Fragen zur Unternehmensgeschichte während des Dritten Reiches zu stellen. Mittelständlern, die sich neu mit Corporate Social Responsibility beschäftigen, rät Kleinfeld: „Stellen Sie sich zuerst die Frage, was der Begriff ‚Verantwortung‘ für Sie bedeutet – und beziehen Sie dabei Ihre Firmengeschichte mit ein.“
Aufarbeitung der Degussa-Geschichte
Unternehmensnachfolger der Degussa ist der Essener Spezialchemiekonzern Evonik. Dessen Vorstandsvorsitzender Klaus Engel besuchte am 26. Januar die Gedenkstätte Yad Vashem und legte im Gedenken an die Opfer des Nationalsozialismus einen Kranz nieder. „Aus dem Versprechen, dass so etwas nie wieder geschehen darf, erwächst gerade für uns Deutsche die Verpflichtung, die Werte unserer freiheitlich-demokratischen Grundordnung gegen solche Kräfte zu verteidigen, die Fremdenfeindlichkeit, Intoleranz und Gewalt schüren“, sagte Engel anschließend.
Degussa hatte 1998 den amerikanischen Historiker Peter Hayes mit der Erforschung der Unternehmensgeschichte während der Zeit des Nationalsozialismus beauftragt und dazu ihr Konzernarchiv geöffnet. Um die Forschungsfreiheit zu gewährleisten, sollte kein Degussa-Verantwortlicher die Ausarbeitungen von Hayes vor deren Veröffentlichung zu Gesicht bekommen. Dokumentiert sind Ergebnisse von Peter Hayes in dem Buch „Die Degussa im Dritten Reich. Von der Zusammenarbeit zur Mittäterschaft“. Daraus geht hervor:
Der von Degussa unter der Bezeichnung Zyklon B auf den Markt gebrachte Cyanwasserstoff (Deutsch: Blausäure) wurde über die mit Degussa verbundene Degesch (Deutsche Gesellschaft für Schädlingsbekämpfung) und ein weit verzweigtes Firmennetzwerk produziert und vertrieben. Die SS verwendete die Substanz zunächst zur Desinfizierung von Gebäuden und Kleidung. Im September 1941 begann die SS mit Experimenten zur Tötung von Menschen mittels Blausäure. Ab Anfang 1942 wurde Zykon B in den Gaskammern der Konzentrationslager Auschwitz und Majdanek zum systematischen Mord insbesondere an Juden eingesetzt.
In diese Verwendung des Zyklon B war der Degesch-Geschäftsführer Gerhard Peters verstrickt. Hinweise darauf, dass Peters den Degussa-Vorstand darüber informierte, fand Heyes nicht. Peters wurde nach dem Krieg von deutschen Gerichten zunächst verurteilt und später freigesprochen, wobei die Degussa Rechtsberatung und eine Kaution zur Verfügung stellte. Heyes schreibt: „Es gibt keine Beweise dafür, dass die Hilfestellung der Degussa für Peters auf eine Art ‚Schweigegeld‘ hinauslief. […] Die Reaktion der Degussa gründet wohl eher auf einer eigennützigen, wenn auch nicht unzutreffenden Haltung, die in den deutschen Unternehmen nach 1945 durchaus üblich war und mehr oder weniger besagte: ‚Wir alle sind zum Nutzen der Firma oder der Aktionäre oder der Angestellten oder der Familie Kompromisse eingegangen.‘“
Während das Verhalten der Degussa während des Dritten Reiches mit Unterstützung des Konzerns umfangreich aufgearbeitet wurde, bleiben für die Nachkriegszeit Fragen offen: „Nicht aufgearbeitet ist, weil das Degussa-Archiv die Akten nicht freigibt (zunächst hieß es: es gäbe dazu keine Akten), die Frage, wie tief die Degussa nach 1945 in den zunächst für Deutsche illegalen Goldhandel, auch mit Zahngold von Holocaustopfern, involviert war“, so der Historiker Prof. Michael Wolffsohn gegenüber CSR NEWS.
Corporate Historical Responsibility heute
Welche Verantwortung tragen Unternehmen heute im Blick auf den Umgang mit ihrer Geschichte? Dazu befragte CSR NEWS Prof. Claudia Janssen Danyi von der Eastern Illinois University, die Unternehmenskommunikation und -rhetorik von Unternehmen mit dunkler Vergangenheit untersucht hat – wie z.B. Zwangsarbeit in Deutschland und Sklaverei in den USA.
Frau Prof. Janssen Danyi, wie können in Fällen wie dem Giftgaseinsatz von Zyklon B Unternehmen zur Aufklärung beitragen?
Claudia Janssen Danyi: Mit den Details des Degussa-Falls bin ich nicht vertraut. Unternehmen mit dunkler Vergangenheit können generell selbst sehr viel für die Aufklärung tun – sie können z.B. ihre Archive öffnen und historische Forschung unterstützen. Über Degussa sind so ja auch verschiedene Studien entstanden, beispielsweise die Arbeit von Peter Hayes, der uneingeschränkten Zugang zum Archiv hatte. Zur Beantwortung der Frage, wer zu einer weiteren Aufklärung beitragen sollte sehe ich es als zentral an, wo Opfer und ihre Nachfahren weiteren Aufklärungsbedarf sehen, und was sie von Degussa/Evonik nach wie vor erwarten und einfordern.
Hätte Degussa den Einsatz von Zyklon B zur Tötung von Menschen verhindern können?
Neben forensischen Fragen geht es bei der Aufarbeitung von Geschichte um Fragen der moralischen Verantwortung. Es ist wichtig, die komplexen und zahlreichen Verflechtungen von Unternehmen mit Unrechtsregimen und Genoziden insgesamt besser zu verstehen.
Wie sollte sich der Degussa-Nachfolgekonzern Evonik heute zu dieser Vergangenheit stellen?
Unternehmen mit dunkler Vergangenheit sollten sich ihrer Geschichte – idealerweise im offenen Austausch und Dialog mit Überlebenden und Nachfahren von Holocaustopfern sowie Opferverbänden über genau diese Fragen – stellen. Maßnahmen, Ideen und Projekte können auch aus dem gemeinsamen Dialog heraus entstehen. Gelingt Versöhnung auf diese Weise begegnet man sich nicht mehr nur als Opfer und Täter, sondern wird langsam zu Partnern bei der Aufarbeitung der Geschichte. Natürlich funktioniert das nur, wenn ein Unternehmen bereits gezeigt hat, dass es tatsächlich an ernsthafter Versöhnung interessiert ist.
Bei der Auseinandersetzung mit Unternehmensgeschichte geht es ja nicht nur um die Vergangenheit selbst, sondern auch um die Einstellung und das Verhalten des gegenwärtigen Unternehmens gegenüber seiner Vergangenheit und der Opfer und ihrer Nachfahren. Das ist der Teil, den ein Unternehmen ändern kann. Wenn beispielsweise Widergutmachungsleistungen verweigert wurden oder ein Unternehmen die Aufarbeitung seiner Geschichte lange behindert hat, ist keine Basis für einen Dialog vorhanden, und es muss zunächst eine Basis geschaffen werden. Das ist ein langfristiger Prozess mit offenem Ausgang, in dem ein Unternehmen auch bereit sein muss, Kontrolle abzugeben und Konsequenzen zu tragen.
Welche Verantwortung trifft Unternehmen grundsätzlich in Bezug auf den Umgang mit einer belastenden Vergangenheit?
An erster Stelle steht die Verantwortung gegenüber Opfern und Nachfahren. Die Bedürfnisse und Wünsche derer, die unendliches Leid ertragen mussten, müssen respektiert und adressiert werden. Unternehmen mit dunkler Vergangenheit haben auch eine gesellschaftliche Verantwortung zur Aufarbeitung der Geschichte und zur Versöhnung beizutragen. An dritter Stelle – und hier gehen Corporate Historical Responsibility und CSR Hand in Hand – steht die Verantwortung dafür, dass sich das eigene Verhalten und das Unrecht der Vergangenheit nicht wiederholt und wiederholen kann. Entsprechend bedeutet Verantwortung für die Vergangenheit auch, in der Gegenwart eine ethisch orientierte Unternehmenskultur zu gestalten und Verantwortung für die Zukunft und Gegenwart zu übernehmen.
Was können Unternehmen tun, um ähnliche Vorgänge heute oder in der Zukunft zu vermeiden? Wo droht Ähnliches?
Komplizenschaft mit Genoziden und Menschenrechtsverletzungen in anderen Teilen der Welt zu vermeiden, sollte für deutsche Unternehmen einer demokratischen Gesellschaft heute nicht schwer sein; wenn es das ist, dann hat ein Unternehmen an der Vermeidung wahrscheinlich auch kein ernsthaftes Interesse. Firmen, die beispielsweise heute Software für die Internetzensur in Diktaturen entwickeln und verkaufen oder ihre Produkte in politischen Gefängnissen produzieren lassen, haben die Entscheidung getroffen, dies zu tun oder sich zumindest entschieden, nicht so genau hinzuschauen.
Im Rahmen von Complianceprozessen können natürlich kritische Entscheidungen auf Vereinbarkeit mit ethischen Grundsätzen der Organisation überprüft werden. Entscheidend ist aber die Qualität der Unternehmenskultur als Kern einer ethisch agierenden Organisation. Über die eigenen Aktivitäten hinaus, können Unternehmen hier auch eine wichtige und positive Rolle spielen, wenn sie sich konsequent für Menschenrechte und gegen Unrecht einsetzen.
Herzlichen Dank!
Dokumentationen zum Thema „Degussa und Zyklon B“ auf des Evonik-Website:
www.evonik.de/geschichte