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„Es dauert halt ein bisschen länger“: Aus der Förderschule in den Job

CC0 von Patrice_Audet auf pixabay

Industrie und Handwerk suchen Auszubildende und junge Fachkräfte. Schüler aus Förderschulen suchen Berufschancen und Jobs. Wie passt das zusammen?

CSR MAGAZIN besuchte eine Förderschule und einen Arbeitgeber und sprach mit einem Rehabilitationsberater sowie mit einem ehemaligen Förderschüler.

Von Achim Halfmann

Ich hab‘ zwar eine Lernschwäche, aber das ist keine Behinderung“, sagt Frank R. Im Alter von 17 Jahren verließ er eine Förderschule – mit hohen Erwartungen und geringen Chancen. „Mein Betreuer wollte mich in Projekte stecken“, so der heute 24-Jährige. Dass es anders kam und der junge Mann inzwischen einen unbefristeten Arbeitsplatz besitzt, liegt an seiner Entschlossenheit – und an den ihm gebotenen Chancen.

Die Lebensgeschichte von Frank steht stellvertretend für Erfahrungen vieler anderer. Nach seiner Geburt kam der Säugling als Erstes in die Entgiftung, seine Mutter hatte während der Schwangerschaft zu viel Alkohol getrunken. Mit elf Jahren brachte das Jugendamt Frank in ein Kinderheim. Die Mutter verstarb später an den Folgen ihrer Sucht. Auch der Vater trank und wurde dadurch zum Pflegefall, sein Sohn besucht ihn heute regelmäßig in einer Betreuungseinrichtung.

Frank kam früh auf eine Förderschule und erreichte dort „nur“ den Förderschulabschluss. Nach seiner Schulzeit wechselte er für neun Monate in ein Berufsbildungswerk. Von dort aus arbeitete Frank als Praktikant bei einem Einzelhändler und gewann seinen Chef dafür, ihm eine Lehre als Verkaufshelfer anzubieten. „Das war hart, da kam ich an meine Grenzen“, berichtet er. Für das Lernen brauchte er mehr Zeit als andere und oft fehlte ihm die Geduld. Aber Frank gab nicht auf: „Wenn ich was schaffen möchte, dauert das halt ein bisschen länger.“ Der junge Mann bestand seine Abschlussprüfung, doch dann wurde der Laden verkauft und Frank war seinen Job los.

Keine Arbeit auf der Straußenfarm

Auf keinen Fall wollte Frank in eine „Maßnahmekarriere“ geraten. Deshalb lehnte er eine geförderte Tätigkeit auf einer Straußenfarm ab, denn: „Wenn der Zuschuss vom Arbeitsamt wegfällt, stehe ich wieder auf der Straße.“ Schließlich kam er mit der Weberei in Kontakt, in deren Produktion er heute – nach einjähriger befristeter Beschäftigung – einen festen Arbeitsplatz hat. „Ich bin so glücklich da, auch wenn es nicht mein Traumjob ist“, sagt Frank. Die Festanstellung gibt ihm Sicherheit und Unabhängigkeit.

Schlüsselqualifikationen für die Arbeitswelt Etwa 350.000 Kindern und Jugendlichen in Deutschland geht es ähnlich wie Frank: Sie besuchen eine Förderschule und erhalten dort einen auf ihre körperlichen, sozialen oder intellektuellen Defizite ausgerichteten Unterricht. Zu dieser Schulform zählt die Erich Kästner Schule in Hückeswagen mit ihren 134 Schülern in den Förderschwerpunkten Lernen, Sprache sowie emotionale und soziale Entwicklung. Die Jungen und Mädchen können dort über einen Förderschulabschluss hinaus die Hauptschulabschlüsse Typ 10A und 10B erreichen oder den Hauptschulabschluss nach Klasse 9. Möglichst gute Abschlüsse sind die besten Eintrittskarten in den Beruf, weiß Schulleiterin Renate Mohr.

Gerade in den oberen Klassen dreht sich vieles um die Berufsvorbereitung. Unterrichtsziel ist die Entwicklung von Schlüsselqualifikationen für die Arbeitswelt: Pünktlichkeit, Zuverlässigkeit, Ausdauer, Höflichkeit, Teamfähigkeit und körperliche Belastbarkeit. So nehmen die Jungen und Mädchen am Fachunterricht an Schülerfirmen teil. Hier erleben sie – innerhalb des Schonraums Schule – echte Arbeitsbedingungen. Das Schülercafé, das Bistro, die Fahrradwerkstatt oder der Bereich Garten sind solche Schülerfirmen.

Erste Begegnungen mit der Berufswelt ermöglichen die Praktika. Bereits in der 7. Klasse wechseln die Schüler für ein zweiwöchiges Sozialpraktikum in ein Altersheim, ein Krankenhaus oder eine Kindertagesstätte. In der 8. Klasse folgt ein einwöchiges Orientierungs-, in der 9. und 10. Klasse jeweils ein dreiwöchiges Betriebspraktikum. Nach dem Praktikum in Klasse 10 arbeiten die Schüler einen Tag pro Woche im Betrieb. So hat schon mancher „einen Fuß in die Tür bekommen für eine Ausbildung oder ein freiwilliges soziales Jahr“, berichtet der Lehrer Manuel Anastasi. Denn in Vorstellungsgesprächen können sich die jungen Leute häufig schlecht verkaufen.

Hürde Vorstellungsgespräch

Das hat Dirk erlebt: Der leicht autistische Jugendliche spricht wenig und dazu undeutlich, ist aber intelligent und bringt ausgezeichnete schulische Ergebnisse. Die Mathematikprüfung für den 10B-Abschluss absolvierte er fehlerfrei. Wegen seiner guten Ergebnisse wurde Dirk überall dort zu Gesprächen eingeladen, wo er sich beworben hatte – und fand trotzdem keine Lehrstelle. Jetzt bereitet er sich auf einer Fachoberschule auf das technische Fachabitur vor.

Deshalb sind die Praktika so wichtig. Aber es ist für Schulleiterin Renate Mohr und ihr Team nicht leicht, eine ausreichende Zahl an Beschäftigungsstellen zu finden. Einerseits gibt es Überschneidungen mit den Praktikumszeiten anderer Schulen. Andererseits gingen Stellen verloren, weil sich die jungen Leute dort unangemessen verhielten: Sie fehlten unentschuldigt oder begingen Diebstähle. Bei Problemen stehen die Lehrer bereit: Sie sind an den Praxistagen in den Betrieben unterwegs und begleiten die Praktika intensiv.

Welche Voraussetzungen braucht ein Betrieb, der Förderschüler als Praktikanten oder Auszubildende beschäftigt? Anastasi: „Die Ausbilder müssen keine Pädagogen sein, aber Verständnis für die Andersartigkeit mitbringen.“

Haushalte ohne Buch

An der Schnittstelle zwischen Schule und Beruf wird die Bundesagentur für Arbeit tätig. Werner Kemper ist als Rehabilitationsberater der Agentur in Bergisch Gladbach für Förderschüler aus dem Schwerpunkt Lernen zuständig. Im vorletzten Schuljahr kommt er an die Schulen und spricht mit den einzelnen Schülern und deren Eltern: Soweit sich die Eltern auf ein solches Gespräch einlassen, was oft nicht der Fall ist. Viele Schüler kommen aus „Haushalten, wo kein Buch existiert“, hat Kemper beobachtet.

Vor einem zweiten Gespräch steht ein psychologischer Test zur Ermittlung der Leistungsfähigkeit. Für Schüler, denen es an einer Belastbarkeit für den allgemeinen Arbeitsmarkt erkennbar fehlt, bietet die Werkstatt für behinderte Menschen (WfbM) – häufig in Trägerschaft der Lebenshilfe – eine Alternative. Andere Schüler scheinen wohl auf dem ersten Arbeitsmarkt einsatzfähig, es fehlt ihnen aber an den Voraussetzungen für eine Ausbildung. Und eine große dritte Gruppe erscheint ausbildungsfähig, wenn sie weitere Unterstützung erhält. Sie werden in berufsvorbereitende Lehrgänge freier Träger vermittelt.

Alternative Fachpraktiker

Ausbildungsperspektiven bieten nach einem Förderlehrgang die meist zweijährigen Fachpraktikerausbildungen, die das Bundesbildungsgesetz für Menschen mit Behinderungen ermöglicht. Das sind beispielsweise Ausbildungen zum Verkaufshelfer, Hauswirtschaftshelfer, Fachpraktiker für Holzverarbeitung, Helfer im Gastgewerbe, Metallbearbeiter, Fahrzeugpfleger, Werker im Gartenbau oder Helfer für Bürokommunikation. Zu diesen Ausbildungen gehören der Berufsschulbesuch, die Praxis – in Berufsausbildungswerken oder seltener auch in Betrieben – und eine Abschlussprüfung vor der zuständigen Kammer. Die theoretischen Leistungsanforderungen sind gegenüber sonstigen Ausbildungen reduziert, der Schwerpunkt liegt auf Fachpraxis.

Ob mit oder ohne Ausbildung: Ein großer Teil der Förderschulabsolventen ist später in einfachen Helferberufen tätig: in der Produktion, der Landwirtschaft oder im Tiefbau beispielsweise. Wie groß sind die Chancen der Förderschüler Lernen auf eine langfristige berufliche Integration? Kemper: „Ich würde sagen 50 zu 50“. Die Integrationsquote sei aber von Jahr zu Jahr deutlich unterschiedlich.

„So einen kann man nicht vor die Tür setzen“

Ein Beispiel dafür, wie Arbeitnehmer mit Defiziten integriert werden können, bieten die Edeka-Märkte von Markus Hetzenegger. Fünf Menschen mit unterschiedlichen Problemen sind dort beschäftigt. Zu viele dürfen es nicht sein, sagt der Kaufmann. Denn es braucht auch Mitarbeiter, die diese Kollegen anleiten.

Dass in diesen Edeka-Märkten junge Menschen mit Problemen die Chance auf eine Ausbildung finden, ist inzwischen bei den Sozialarbeitern von Caritas und Diakonie bekannt, und sie schicken ihre jungen Klienten dorthin. Der Urgroßvater Hetzenegger startete das Unternehmen vor 119 Jahren als Kolonialwarenladen. Heute haben die beiden in Außenbezirken von Bergisch Gladbach gelegenen Märkte 120 Mitarbeiter, darunter 50 Festangestellte. Das gesellschaftliche Engagement seiner Familie sieht Hetzenegger im christlichen Glauben begründet: „Wir sind alle in der Kirche aktiv gewesen.“

Zu den Arbeitnehmern mit Behinderungen zählt Oliver H. Seine Intelligenz liegt im Grenzbereich zur geistigen Behinderung, er brauchte eine lange Anlernphase und geduldige Begleitung. Nachbarn berichteten, dass sich Oliver H. schon auf die Arbeit freut, wenn er morgens die Fenster öffnet. Bei einer lebensrettenden Operation drängte er den Arzt zu einem Anruf in der Firma und der Mitteilung, dass er bald wieder da sein werde. „So einen kann man nicht vor die Tür setzen“, sagt Hetzenegger. Und wenn Oliver H. wieder einmal Angst um seinen Arbeitsplatz hat, lässt der Chef ihn wissen: „Du wirst immer gebraucht.“

Furad U. hat eine Verkäuferausbildung in den Edeka-Märkten durchlaufen, obwohl er nicht an der Kasse eingesetzt werden kann. Er lebt mit sozialen Einschränkungen, eine Kommunikation mit den Kunden gelingt ihm nicht. Dafür pflegt er das Warensortiment vorbildlich und mit großem Interesse.

Das Engagement für Menschen in schwierigen Lebenslagen beinhaltet Herausforderungen, was Markus Hetzenegger nicht verschweigt: Die anderen Mitarbeiter „müssen sich manchmal doppelt schlagen“. Und es gab auch Enttäuschungen: Vor zwei Jahren erzählte ein neu eingestellter junger Mitarbeiter im Dorf: „Da kann man gut klauen, die merken nichts.“ Das berichtete ein Zuhörer einem Edeka-Mitarbeiter und der erzählte es seinem Chef. Den jungen Mann kostete das den Job. Markus Hetzenegger: „Ich bin kein Samariter und lass‘ mich nicht beklauen.“

Autor: Achim Halfmann
Der Beitrag erschien zuerst im CSR MAGAZIN Nr. 11 (3/2013)
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