Von Johanna Thelemann
Als Leila Kant (Name geändert) ihr Studium anfing, war sie hochmotiviert. Die Rollstuhlfahrerin brauchte zwar mitunter Hilfe in der Uni, zum Beispiel um bestimmte Räume zu erreichen, doch einem akademischen Abschluss stand nichts im Wege: Die Tochter einer Mathematikprofessors verließ einige Jahre später als Magistra Artium den Campus. Ab da ging es bergab. Gelegentlich fand sie befristete Anstellungen über die Schwerbehindertenvertretungen öffentlicher Arbeitgeber; meist unqualifizierte Bürojobs. Doch Leila Kant gab nicht auf, bildete sich im kaufmännischen Bereich weiter – ohne dass die Situation sich je wirklich verbessert hätte. Kurz nach ihrem 40. Geburtstag verließen sie dann ihre Kraft und ihr Kampfgeist: Sie stürzte in eine mehrmonatige Depression.
Ihre Geschichte ist kein Einzelfall. Menschen mit Behinderung haben es schwer, auf dem ersten Arbeitsmarkt Fuß zu fassen. Deswegen wurden im Sozialgesetzbuch IX besondere arbeitsrechtliche Bedingungen festgelegt, die ihre Integration fördern sollen: Unternehmen müssen ab einer Größe von 20 Mitarbeitern zu mindestens fünf Prozent Menschen mit einer anerkannten Schwerbehinderung beschäftigen. Wer dieser Vorgabe nicht nachkommt, muss eine Ausgleichsabgabe leisten – zwischen 105 und 260 Euro monatlich für jeden unbesetzten Pflichtplatz. Die Integrationsdienste leiten dieses Geld an jene Arbeitgeber weiter, die schwerbehinderte Menschen beschäftigen.
Gute Arbeit zu günstigen Konditionen
Musterbeispiel für einen solchen Arbeitgeber sind die Firmen di.hako.tec, di.hako.dip und di.hako.log im schleswig-holsteinischen Trappenkamp. Sie gelten als „Integrationsunternehmen“: Über ein Viertel der Belegschaft hat eine anerkannte Schwerbehinderung. „In unseren 3-Schicht-Betrieb sind alle Mitarbeiter eingebunden. Ihre Leistungfähigkeit ist gut, wenn das entsprechende Umfeld geschaffen wird“, schildert Peter Speckhahn-Hass, Geschäftsführer der drei Unternehmen. Er glaubt, dass die meisten Firmen, die sich gezielt für die Integration behinderter Menschen entscheiden, dies aus wirtschaftlichen Erwägungen tun. So auch die Hako Werke GmbH, die zusammen mit der Gruppe Norddeutsche Gesellschaft für Diakonie di.hako gründeten, „weil die Kernkompetenz von Hako in komplexer Endmontage liegt; vorab gibt es aber viele Arbeiten, die man lieber von anderen erledigen lässt, die dies billiger machen. Wir arbeiten hier zu Konditionen, für die man sonst nach Polen gehen müsste.“ Bei di.hako sieht man Integration als Win-Win-Situation für alle Beteiligten: Leistungsempfänger werden zu Leistungsträgern, und Aufträge bleiben innerhalb des Landes.
Je nach Ausrichtung eines Unternehmens sei durch die Beschäftigung von Schwerbehinderten ein Imagegewinn denkbar: „Wenn einem Verbraucher wichtig ist, dass eine Firma nicht nur als Heuschrecke funktioniert, kann er die Beschäftigung von Behinderten als Vorteil sehen. In anderen Fällen klappt das nicht – etwa, wenn es um Sicherheitsgurte geht. Kaum jemand möchte beim Autokauf denken: Das Teil, was im Zweifel mein Leben rettet, hat ein Mensch mit geistiger Behinderung gebaut“, vermutet der di.hako-Geschäftsführer.
Der menschliche Gewinn überwiegt
Das Beispiel „Sicherheitsgurt“ bestätigt die Beobachtung von Reinhard Jankuhn, Bundesverband für körper- und mehrfach behinderte Menschen e.V.: „Viele haben das Vorurteil, dass Menschen mit Behinderung nicht die gleiche Leistung erbringen können wie andere, aber das stimmt nicht!“ Unternehmen, die mit schwerbehinderten Mitarbeitern positive Erfahrungen gemacht haben, sollten dies unbedingt öffentlich kommunizieren, um andere zu ermutigen, meint er.
Die Bedenken, die es abzubauen gilt, sind vielfältig und manchmal ganz persönlich. Daniela Goltzsche leitet einen CAP-Markt in Wachtberg bei Bonn: einen Supermarkt, in dem die Hälfte der Belegschaft schwerbehindert ist. Vorher war sie für einen großen Discounter tätig. „Anfangs war ich skeptisch, ob ich die Schwierigkeiten der Mitarbeiter seelisch verarbeite.“ In der Tat sei es eine Umstellung gewesen, doch für Daniela Goltzsche überwiegt der menschliche Gewinn: „Das Vertrauen, das ich meinen Mitarbeitern gebe, bekomme ich doppelt und dreifach zurück.“
Hinter vielen Integrationsunternehmen stehen soziale Träger, berichtet Anton Senner, Geschäftsführer der Bundesarbeitsgemeinschaft Integrationsfirmen. „Sie möchten den Menschen, die sie betreuen, Arbeit unter reellen Bedingungen anbieten.“ Seit zwei bis drei Jahren beobachtet Senner, dass zunehmend auch private Firmen Integrationskonzepte entwickeln. Meist seien dies Betriebe, die zwar an den Ausgleichsleistungen interessiert, aber eben auch von Hause aus offen eingestellt seien. „Viele berichten, dass sich das Arbeitsklima verbessert, wenn behinderte Kollegen im Unternehmen tätig sind.“ Es müsse mehr Austausch über Prozesse und Befindlichkeiten geben, davon profitierten auch die anderen Mitarbeiter.
Reizthema Kündigungsschutz
Stephan Hardege, Leiter des Referates Arbeitsmarkt und Zuwanderung beim Deutschen Industrie- und Handelskammertag, zeigt noch einen zusätzlichen Aspekt auf: „Aufgrund des Fachkräftemangels ist es nötig, heimische Potentiale besser zu nutzen. Es gibt eine Reihe von Behinderungen, trotz derer man qualifiziert arbeiten kann.“ Das würden auch die Unternehmer erkennen, jedoch seien sie zurückhaltend aufgrund der besonderen arbeitsrechtlichen Bedingungen: Unter anderem kann einem Mitarbeiter mit Schwerbehinderung nur mit Zustimmung des jeweiligen Integrationsamtes gekündigt werden. Martina Krause, Pressesprecherin des Landschaftsverbandes Rheinland, der auch Träger des Integrationsamtes ist, betont jedoch: „Diese Regelung soll einfach nur sicherzustellen, dass dem Arbeitgeber alle vorhandenen Unterstützungsmaßnahmen bekannt waren.“ Es sollten nicht grundsätzlich alle Kündigungen verhindert werden, sondern nur jene, die sich durch Leistungen des Integrationsamtes vermeiden ließen. Hier gilt wie auch in allen anderen Bereichen rund um die Integration von behinderten Menschen am Arbeitsmarkt: Je intensiver der Austausch zwischen Wirtschaft und Behindertenvertretung, desto erfolgreicher wird man Lösungen finden, von denen beide Seiten profitieren.
Autorin: Johanna Thelemann
Zuerst erschienen im CSR MAGAZIN Nr. 3 (3/2011)