Die Medien berichten anschaulich von der aktuellen Situation der Menschen in den Schwellenländern, vor allem in Asien. Die Wirtschaftskrise hat hier zu Millionen von Entlassungen geführt. Da zerplatzen Hoffnungen auf ein besseres, menschenwürdigeres Leben, auf Bildung für die Kinder und ein klein wenig Teilhabe am Reichtum der westlichen Welt. Keine sozialen Netze fangen diese Menschen auf. Die Redaktion des DNWE-Expertenforums fragte den DNWE-Experten Prof. Dr. Dr. Klaus M. Leisinger nach der Verantwortung von Unternehmen für die Situation der Arbeitnehmer in Asien – und nach dem, was sie in dieser Krise zum Positiven beitragen können.
Redaktion: Herr Prof. Leisinger, für Millionen von Arbeitern und Arbeiterinnen in Schwellenländern scheint das Motto zu gelten: „Der Mohr hat seine Schuldigkeit getan, der Mohr kann gehen.“ Ist es nicht verwerflich, wenn in der aktuellen Wirtschaftskrise gerade dort Unternehmer ihre Mitarbeiter zu Hunderttausenden in die Unsicherheit und Perspektivlosigkeit entlassen?
Klaus M. Leisinger: Massenentlassungen sind sicher aus der Sicht der individuell Betroffenen eine menschliche Belastung und in vielen armen Ländern sogar eine soziale Katastrophe. Besonders in Schwellenländern verschaffte die globalisierungsbedingte hohe Nachfrage nach Exportgütern fast 400 Millionen Menschen, eine produktive Beschäftigung außerhalb der marginalen Landwirtschaft und half ihnen damit, sich aus der absoluten Armut zu befreien. Entlassungen – erst recht in großem Ausmaß – sind daher eine in höchstem Masse unerwünschte Reaktion auf veränderte weltwirtschaftliche Gegebenheiten. Sie kommen aber in Marktwirtschaften vor, wenn sich die Nachfrage nach Gütern und Dienstleistungen in einem Masse verringert, die das Aufrechterhalten des Beschäftigungs-Status-Quo nicht mehr erlaubt.
Die moralisierende Bewertung „verwerflich“ finde ich allerdings nicht angebracht´. Kein Unternehmer schließt seine Fabrik einfach so, es ist ja auch sein investiertes Kapital, das er damit schädigt. Allerdings sollten die Umstände der Entlassungen näher angeschaut werden: Gibt es Übergangsfristen, Abgangsentschädigungen oder gar einen Sozialplan? Wird differenziert nach Alter, Betriebszugehörigkeit etc.? Oder treffen – wie Medienberichte zeigten – völlig uninformierte Menschen auf verschlossene Fabriktüren und haben noch nicht einmal die ihnen zustehenden Löhne und Sozialleistungen erhalten. Hier kam es offensichtlich zu Handlungsweisen, die man als verwerflich bezeichnen kann. Ob das auch mit Perspektivlosigkeit verbunden ist, weiß ich auch nicht. Denn bei wieder anziehender globaler Konjunktur wird auch die Nachfrage nach den meisten Produkten belebt und das wird wieder zu Beschäftigung führen. Dann wird sich auch zeigen: Wer in der Krise verantwortungsvoll mit seinen Mitarbeitern umgegangen ist, wird es leichter haben, qualifiziertes Personal anzuziehen, weil er der attraktivere Arbeitgeber ist.
Redaktion: Welches Gefährdungspotential geht nach Ihrer Überzeugung bezüglich der Menschenrechte von der aktuellen Wirtschaftskrise aus? Wo müssen wir besonders hinsehen?
Klaus M. Leisinger: Menschenrechtsverletzungen als „Kollateralschäden“ wirtschaftlichen Handelns zu akzeptieren ist unter allen Umständen verwerflich. Wenn man sich eingesteht, dass es so etwas wie eine „moralische Gauss-Verteilung“ unter Menschen – und daher auch unter Managern – gibt, dann bedeutet das: Es wird in einzelnen Fällen skrupellose Bösewichte geben, die eine Krise dazu ausnutzen, Menschen zu demütigen, zu knechten und ihre Menschenrechte zu verletzen. Aber das sind Ausnahmen. Auch in der Wirtschaftskrise ist es nicht legitim, vom Geist dessen abzuweichen, was etwa der Global Compact als Handlungsprinzipien vorgibt. Da müssen wir genau hinsehen. Natürlich kann ein gut gehendes Unternehmen seinen Stakeholdern mehr soziale, ökologische und andere Leistungen zukommen lassen als eines, das Verluste macht. Unter keinen Umständen darf jedoch der Korridor verantwortlichen Handelns verlassen werden. Anhaltende ökonomische Probleme werden auch einzelne verantwortungsvoll handelnde Unternehmen nicht davor bewahren, Kurzarbeit anzuordnen oder gar Entlassungen vorzunehmen. Das aber ist etwas anderes als Menschenrechte zu verletzten, Menschen zu schinden oder die Umwelt zu schädigen.
Redaktion: Die Wirtschaftskrise bringt gerade die arbeitende Bevölkerung in Schwellenländern in eine verzweifelte Situation. Ist es da nicht naheliegend, dass Unternehmen die neue Abhängigkeit der Arbeitnehmer nutzen und bei den Menschenrechten zurückrudern, bereits erzielet Fortschritte also verloren gehen?
Klaus M. Leisinger: Unternehmen werden in Wirtschaftskrisen in erster Linie dort „zurückrudern“ wollen, wo sie in guten Zeiten Zusatz- und Extraleistungen erbrachten, die sie sich bei veränderter Wirtschaftslage nicht mehr leisten können. Ich halte dies so lange für legitim, wie essentielle Voraussetzungen legitimen Handelns nicht verletzt werden: Angesichts dessen, was in den vergangenen „guten“ Jahren von gut organisierten Stakeholdern an „Corporate Responsibility“ Leistungen verlangt und zum Teil auch erhalten wurde, war klar: Bei einer Wirtschaftskrise würde es zu einer Konsolidierung und Anpassung des corporate responsibility Leistungs-Portfolios kommen. Auf die Idee, in Ländern mit mangelhaften Gesetzen oder korrupten Beamten jetzt Menschenrechte zu verletzen, Zwangsarbeit und Kinderarbeit zur Kostensenkung zu nutzen oder die Umwelt zu verschmutzen, auf diese Idee können meiner Meinung nach nur Menschen kommen, denen es an Intelligenz und Moral fehlt.
Redaktion: Dennoch stehen gerade in dieser Krise nicht nur Unternehmen, sondern gerade deren Manager als Einzelpersönlichkeiten im Fokus der Kritik.
Klaus M. Leisinger: Trotz aller ökonomischen Schäden und sozialen Belastungen scheint mir die gegenwärtige Finanz- und Wirtschaftskrise mehr als alles andere eine Vertrauenskrise in die tragenden wirtschaftlichen und ordnungspolitischen Institutionen und in die Integrität ihres Führungspersonals zu sein. Vertrauen wieder zu gewinnen ist daher auch eine Grundvoraussetzung für einen Neuanfang. Vertrauensgewinn ist ohne eine rationale Aufarbeitung der verschiedenen Krisenursachen nicht vorstellbar. Wir kennen heute zwar noch nicht alle Ursachen der Finanzkrise, aber vieles ist inzwischen klar: Die Ursachenkette reicht von der politisch gewollten Hypothekenvergabe an eigentlich nicht kreditwürdige Haushalte über Defizite an kluger Regelung, Mängel beim Risikomanagement, unzureichend robusten Modellannahmen bis hin zu schlichten Irrtümern, wie sie jedem anständigen Menschen unterlaufen können. Diese Komplexität überfordert viele Menschen. Sie reagieren mit einer simplification terrible und mit einer personal zugespitzten Moralisierung und werden darin von den Medien unterstützt. Die Mischung aus Aufrufen zum Zorn, personifizierter Zuweisung moralischer Schuld und verbreitetem Empfinden von Ungerechtigkeit ist gesellschaftspolitisch äußerst gefährlich.
Redaktion: Sollten wir also lieber den Blick nach hinten beenden und nur noch die Zukunft unseres Wirtschaftssystems in den Blick nehmen?
Klaus M. Leisinger: Menschen neigen in Krisensituationen dazu, den Zustand von vor der Krise wieder herstellen zu wollen – dabei hat doch genau dieser zur Krise geführt. Daher ist eine Detail-Analyse unverzichtbar: Was genau lief falsch durch falsche Spielregeln? Welche Faktoren hatten Akteure veranlasst, Spielzüge gegen bestehende (Compliance-) Spielregeln zu unternehmen? Gab es ex post als Fehler erkannte Handlungs- oder Verhaltensweisen, die ex ante nicht als Fehler erkennbar waren? Sinn einer solchen Analyse ist, zukünftige Krisen durch das Lernen aus in der Vergangenheit begangenen Fehler und Irrtümern möglichst zu vermeiden und bei der Schadensbekämpfung nicht noch mehr neuen Schaden anzurichten.
Redaktion: Für manche Zeitgenossen steht als Ursache fest: Die Gier der Manager hat in diese Krise geführt.
Klaus M. Leisinger: Die Analyse ethischer Ursachen-Komponente sollte von den politischen, finanztechnischen und Risikomanagement-spezifischen Komponenten getrennt, aber gleichwohl unternommen werden: Welche Rolle spielte die Gier von Menschen in allen Sphären der Gesellschaft, rasch spekulativ Geld verdienen zu wollen? Wie kann man institutionell nachhaltige Handlungsnormen ermutigen und verstärken, die Menschen deshalb befolgen, weil sie sich persönlich verpflichtet fühlen? Wie kann die rein ökonomisch definierte Marktlogik durch kluge staatliche, Branchen- und Selbst-Regulierung um sozialethische Elemente ergänzt werden? Und das so, dass es nicht unter öffentlichem Druck zu populistisch motivierten, defensiven und kurzfristig angelegten Politikeingriffen kommt, die das Problem in andere Länder oder auf eine andere Ebene verschieben und es nicht lösen?
Redaktion: Nach einer solchen Analyse wissen wir, was Manager falsch gemacht haben. Wo sind sie aber heute gefordert, was können sie richtig tun?
Klaus M. Leisinger: In Krisensituationen suchen Menschen nicht nur rückwärtsgewandte Analyse, sie erwarten auch Orientierung und Führung. Daher sind die intellektuellen, sozialen und finanziellen Eliten in besonderem Masse gefordert, Antworten zu geben und Wege aus der Krise aufzuzeigen und so ihre Vorbildfunktion für das Gesellschaftsganze wahrzunehmen. Emotionslos zu gemachten Fehlern zu stehen, sie transparent systemisch zu korrigieren und mit harter Arbeit und Durchhaltevermögen einen Neubeginn zu machen, ist vielleicht die einzige Möglichkeit, der „Regulierungs-Falle“ zu entgehen. Es wäre naiv anzunehmen, dass Staatsangestellte die besseren Finanz- und Wirtschaftsmanager sind.
Redaktion: Zurück zur Situation in den Schwellenländern: Können Unternehmen dort einen Beitrag zum Aufbau sozialer Sicherungssysteme leisten? Welchen Beitrag?
Klaus M. Leisinger: Ja, das können sie und sie tun es auch oft – allerdings nur für die im eigenen Unternehmen angestellten Mitarbeiter. Zu hoffen ist, dass solche Leadership-Leistungen mit der Zeit von anderen Unternehmen nachgeahmt werden. Das gilt allerdings nur für den moderneren Sektor, in der Landwirtschaft und bei Kleinunternehmen im traditionellen Sektor wird eine vergleichbare Entwicklung so schnell nicht kommen
Redaktion: Was bedeutet die aktuelle Wirtschaftskrise für die Erreichung der Millennium-Ziele?
Klaus M. Leisinger: Ich befürchte, dass die Wirtschaftskrise dreifach die Erreichung der Millenniumsziele gefährden wird: Erstens sind die Rohstoffpreise wegen der sinkenden Nachfrage gefallen. Gefallen sind zweitens die Transfereinkommen von Gastarbeitern in anderen Ländern. Und drittens wird auch die Entwicklungshilfe nicht steigen, wenn Staaten ihre Ausgaben den gesunkenen Steuereinkommen und der erhöhten Verschuldung anpassen müssen. Ich hoffe daher, dass wir nach zwölf Monaten wieder Licht am Ende des Tunnels sehen und zumindest langfristig angelegte Entwicklungsprogramme nicht eingestellt werden.
Redaktion: Was lässt sich aus dieser Krise für ein verantwortungsvolles unternehmerisches Engagement gerade in den Schwellenländern lernen?
Klaus M. Leisinger: Dasselbe wie in den Industrieländern: Erstens ist nicht alles, was auf kurze Frist hohe Renditen verspricht, ökonomisch nachhaltig erfolgreich. Zweitens: lasst uns die Ursachen der jetzigen Krise genau analysieren, damit dieselben in Zukunft Fehler vermieden werden. Und drittens: lasst uns aufpassen, dass der „Wasserschaden“, der beim Löschen des jetzigen Krisenfeuers entsteht, nicht grösser ist, als es der Feuerschaden wäre.
Redaktion: Herzlichen Dank!
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