Ein Essay von Dr. Thomas Middelhoff.
Corporate Governance wird in Deutschland zunehmend zum Thema. Nicht nur Skandale wie bei VW und Siemens, sondern auch das Engagement ausländischer Finanzinvestoren zwingt dazu, die Praxis der Unternehmensführung hierzulande auf den Prüfstand zu stellen. Deutsche Aufsichtsgremien sind nicht selten personell aufgebläht, überaltert und inkompetent. Doch Deutschland braucht Kontrolleure, die ihre Aufgabe nicht als Ehrenamt verstehen, sondern als professionelle Aufgabe. Denn ihre Arbeit prägt die Unternehmenskultur in unserem Lande.
Corporate Governance wird in Deutschland zunehmend an Bedeutung gewinnen. Das gilt ganz unabhängig davon, ob ein Unternehmen familiengeführt, börsennotiert oder im Besitz von Finanzinvestoren ist. Hier gibt es nicht schwarz oder weiß, groß oder klein. Es wäre ein Irrglaube, anzunehmen, Corporate Governance sei nur etwas für Public Companies und DAXUnternehmen. Nein, Corporate Governance betrifft alle Unternehmen! Denn es geht um gute Unternehmensführung.
Das betrifft zuallererst die Kapitalseite: Zunächst einmal bedeutet professionelle Corporate Governance aktive Shareholder. Ohne ein aktives Gesellschafterverständnis ist Corporate Governance schwer vorstellbar. Wenn die Corporate Governance in einem Unternehmen nicht funktioniert, dann ist das eine Bankrotterklärung des Kapitals. Dann hat das Kapital nicht geführt. In der Hinsicht ist es für ein Familienunternehmen oder für einen Finanzinvestor natürlich einfacher, das Kapital führen zu lassen, als für ein börsennotiertes Unternehmen. Grundsätzlich aber müssen alle Stakeholder ein Interesse an einer professionellen Corporate Governance haben.
Was ist nun genau unter Corporate Governance zu verstehen? Corporate Governance rein als „gutes Benehmen“ zu übersetzen greift zu kurz. Am ehesten kommt man der Bedeutung nahe, wenn man sich das Gegenteil in Erinnerung ruft: nämlich das schlechte Benehmen von Unternehmensführungen, das in den letzten Jahren nicht für unerhebliche Turbulenzen an der Börse gesorgt und das Vertrauen in die Finanzmärkte nachhaltig zerrüttet hat. Enron, WorldCom, Vivendi – diese Namen stehen für eine tiefgreifende und nachhaltige Krise guter Unternehmensführung, die – anders, als viele meinen – noch längst nicht überwunden ist.
Ein Blick auf diese Skandale kann helfen, genauer zu verstehen, worum es bei Corporate Governance geht. Ich kann jedem, der es noch nicht getan hat, raten, das Buch mit dem Titel Conspiracy of Fools– zu Deutsch: Verschwörung der Narren– zu lesen. Es ist die minutiöse Rekonstruktion des EnronSkandals, geschrieben von dem New-York-Times-Reporter Kurt Eichenwald, der sich durch Berge von Akten gewühlt, Hunderte von Gesprächen geführt und akribisch recherchiert hat, um rekonstruieren zu können, was im Fall Enron wirklich gelaufen ist. Eichenwald kommt dabei zu einer ganz schlichten Erkenntnis: Enron ist für ihn das Versagen von Ethik – in einem ganz bestimmten Sinne: Wenn ein Unternehmen so weit geht – was bei Enron der Fall war –, den eigenen Verhaltenskodex zu brechen, um bestimmte unternehmensstrategische Entscheidungen durchsetzen zu können, dann müsste das bei jedem erfahrenen Unternehmensführer die Alarmglocken klingeln lassen.
Das aber ist nicht passiert. Warum? Eichenwald hat im ersten Kapitel seines Buches einen Fall beschrieben, der einige Jahre vor dem eigentlichen Skandal passiert ist, der aber erklären kann, warum später dann alle Sicherungen versagt haben: Kenneth Lay, zuerst der CEO, später der Chairman von Enron, war in seinen jüngeren Managerjahren bei dem Energieunternehmen mit einem Unterschlagungsfall in einem seiner TraderDepartments konfrontiert. Als ihm in einem Krisenmeeting handfeste Beweise gegen zwei seiner Trader vorgelegt wurden, erwartete jeder in der Firma, dass er die beiden Mitarbeiter, die gegen die Regeln und Grundsätze, die damals bei Enron galten, verstoßen hatten, fristlos entlassen würde. Aber wie hat Herr Lay sich verhalten? Er agierte nach dem Motto: Regeln sind zwar wichtig für die Führung eines Unternehmens, aber man sollte sie nicht zu eng auslegen. Er glaubte seinen Tradern, die für sich in Anspruch genommen hatten, nur das Beste für das Unternehmen im Sinn gehabt zu haben. Die Leute wurden nicht entlassen.
Und was ist die Folge? Wenn sich ein Topmanager so verhält, dann verhält sich das ganze Unternehmen so – von der Spitze her. Und als später dann die wirklich großen illegalen „Deals“ liefen, verhielt sich Lay nicht anders als früher bei der „kleinen“ Unterschlagung seiner Angestellten. „Wir standen vor der Wahl“, zitiert ihn Eichenwald: „Wir konnten entweder die Wachstumsrate deutlich senken oder weiter schnell wachsen, indem wir außer bilanzielle Transaktionen durchführten. … Wir haben uns für das schnelle Wachstum entschieden.“ Das ist Enron. Und das heißt: Wer über gute Corporate Governance spricht, der muss über Verantwortungsethik sprechen!
Sicher, Betrüger im Wirtschaftsleben hat es immer gegeben. Aber das kann keine Entschuldigung sein. Und keine Ausflucht, nicht alles daranzusetzen, Betrügereien und unethisches Verhalten auszuschließen. Das ist das Thema von Corporate Governance. Hierbei geht es darum, zu lernen und zu verstehen, welcher Grundsätze, Prozesse und Tools es bedarf, um ein Unternehmen nach BestPracticeGesichtspunkten gut zu führen. Das wiederum ist nicht nur eine Frage der Ethik – ich bin der Überzeugung, dass ein Unternehmen, das eine gute Corporate Governance hat, eine bessere Performance erreichen kann als ein Unternehmen mit einer schlechten Corporate Governance. Das heißt: Gute Unternehmensführung rechnet sich auch.
Es ist richtig, dass die Skandale der zurückliegenden Jahre die Corporate Governance auf die Tagesordnung gebracht haben. Gleichwohl hat das Thema wesentlich mehr Jahre „auf dem Buckel“ – nämlich gut ein halbes Jahrhundert. Es waren die Nachwehen der Weltwirtschaftskrise von 1929, die zum testierten Jahresabschluss und damit zur Gründung der renommierten Wirtschaftsprüfungsunternehmen geführt haben. Und es war ja eine interessante Folge des Falls Enron, dass einer dieser „Big Five“ der Wirtschaftsprüfungsunternehmen von der Bildfläche verschwunden ist, nämlich Arthur Andersen. Doch ist dieses Unternehmen nicht allein deshalb untergegangen, weil es in den EnronStrudel gezogen wurde, sondern weil es selbst Probleme mit der eigenen Corporate Governance hatte. Arthur Andersen fiel nicht erst ist im Zusammenhang mit Enron auf, sondern war zuvor schon in den Blick der Securities and Exchange Commission (SEC), der amerikanischen Börsenaufsicht, geraten, weil das Unternehmen aggressive Geschäftspraktiken verfolgt hatte, um an Neuaufträge zu kommen.
Schon in den 90erJahren – also vor Enron und gut 60 Jahre nach der Einführung von Corporate Governance war das Thema in den USA wieder stärker in den Blickpunkt der Öffentlichkeit geraten. Damals wurde das Auseinanderklaffen von Aktionärsinteressen und Unternehmensführung thematisiert. Man forderte von den Unternehmen, ihre Grundsätze einer guten Corporate Governance, nämlich die GoodGovernance, zu Papier zu bringen.
Die jüngsten Fälle haben dann dazu geführt, dass die Bestimmungen zur Missbrauchseindämmung immer weiter verschärft werden. Exemplarisch dafür steht der SarbanesOxleyAct, ein Gesetz zur verbindlichen Regelung der Unternehmensberichterstattung in den USA, das nach den Bilanzskandalen bei Enron und WorldCom erlassen wurde. Benannt wurde es nach seinen Verfassern, dem demokratischen Senator Paul S. Sarbanes und dem republikanischen Abgeordneten Michael Oxley. Ziel des Gesetzes ist es, das Vertrauen der Anleger in die Richtigkeit der veröffentlichten Finanzdaten von Unternehmen wiederherzustellen. Es verschärfte die Überwachung der Abschlussprüfung, stärkte die Unabhängigkeit des Abschlussprüfers, schuf neue Gremien wie das Audit Committee und verschärfte die Verantwortlichkeit von CEO und CFO für die Rechnungslegung. So müssen die CEOs von amerikanischen Public Companies unterschreiben, dass ihre Rechnungslegung richtig ist und dass sie sich der Tatsache bewusst sind, dass sie einen Straftatbestand erfüllen, wenn dies nicht der Fall sein sollte. Hinzu kamen noch die Offenlegung der internen Kontrollsysteme sowie die Etablierung eines Beschwerdemanagements. Schließlich hat das SEC sehr klare Anforderungen hinsichtlich der Zusammensetzung des Audit Committees vorgegeben. Potentielle Mitglieder müssen ganz bestimmte Kriterien erfüllen, ansonsten können sie nicht in das Gremium gewählt werden.
Einfacher ist die Führung eines Unternehmens unter solchen Bedingungen nicht geworden. Aber ich glaube, dass solche Ansätze absolut in die richtige Richtung zielen. Dennoch bin ich der Überzeugung, dass der SarbanesOxley Act nur eine begrenzte Wirkung haben wird. Eine negative Wirkung ist bereits
feststellbar: nämlich dass sich in Amerika kaum noch Manager finden, die sich für die Audit Committees nominieren lassen. Der Grund ist, dass viele das Risiko nicht auf sich nehmen wollen, weil sie sehr schnell zur Zielperson von ShareholderKlagen werden. Kurzum: SarbanesOxley alleine wird nicht zur guten Corporate Governance führen.
Vielfach diskutiert wird die grundsätzliche Frage, welches Modell der Unternehmensführung besser geeignet sei, eine gute Corporate Governance sicherzustellen. Ich glaube, dass die Konstruktion eines einstufigen
Führungs- und Kontrollgremiums, wie in den USA, Vor- und Nachteile hat. Meine Meinung dazu ist: Man sollte dem nicht Glauben schenken, wenn behauptet wird, das amerikanische, das angelsächsische Modell hätte eindeutige Vorteile gegenüber dem deutschen – es ist wie immer im Wirtschaftsleben: Es gibt nicht nur schwarz und weiß. Vor- und Nachteile gibt es bei beiden Modellen.
Im monistischen Modell der Verwaltungsorganisation amerikanischer Unternehmen werden drei Organe unterschieden: die Shareholder, das Board of Directors und die Officer. Den Aktionären stehen die beiden anderen Organe in starker personeller Verflechtung gegenüber – und aus meiner Sicht ist das problematisch. Denn im Board sind – in Personalunion – Geschäftsleitungs- und Kontrollfunktionen konzentriert. Und damit werden zwei grundsätzlich verschiedene Funktionen miteinander vermengt. So kann ein Officer auch Mitglied des Board sein, zum Beispiel als Chairman of the Board oder als Chief Executive Officer. Im schlimmsten Fall sorgt also der Sünder selber für seine Aufsicht. Und das ist vor allem dann der Fall, wenn – so eine vielfach geübte Praxis – der CEO in Personalunion zugleich der Chairman ist. Aber es gibt Ansätze, diese Nachteile konsequent abzustellen. Noch nicht gesetzlich verankert, aber mehr und mehr Praxis in Amerika ist es, die Personalunion zwischen CEO und Chairman zu unterbinden. Das Zweite ist, dass so genannte Lead Directors benannt werden, die die unabhängigen Direktoren in dem Board repräsentieren und deren Meinung gegenüber dem CEO und Chairman artikulieren sollen. Schließlich gibt es so genannte Nonexecutive Sessions, bei denen erst der CEO, später der Chairman gebeten wird, den Raum zu verlassen. Es bleiben nur noch die Independent Directors, die sich über ihre Sicht der Dinge und mögliche befürchtete Fehlentwicklungen offen austauschen können. Diese Praxis gibt es in dem zweistufigen System in Deutschland in dieser Form nicht.
Natürlich ist in Amerika das Hauptproblem der fehlenden Unabhängigkeit der Kontrolle längst erkannt. Um die Folgen zu lindern, hat man umfangreiche Auswahlund Verhaltenskriterien für Nonexecutive Board Members, die Kontrollfunktionen wahrnehmen und vornehmen, herausgebildet. Ich kann ein Beispiel aus meiner eigenen Erfahrung berichten: In meinem ersten
ShareholderMeeting bei AOL Inc. in Washington im Frühjahr 1995 galt die erste Frage gleich meiner Person – ich war schockiert. Ein Shareholder trat auf und sagte: „Warum war Herr Middelhoff bei der BoardSitzung am Sound sovielten körperlich nicht anwesend?“ Oder anders gesagt: Was nutzt eine perfekte Corporate Governance, wenn ein Großteil der Aufsichtsratsmitglieder oder der BoardMitglieder einfach nicht an Gremiensitzungen oder an Conference Calls teilnehmen? Die andere Frage ist freilich: „Wie aktiv nehmen Mitglieder eigentlich teil?“ Das freilich lässt sich schlechterdings nicht messen. Die Frage ist, ironisch gesagt: Ist Schlafen eigentlich Anwesenheit oder ist Schlafen nicht Anwesenheit? Auf diese Frage weiß auch das deutsche Modell keine Antwort.
Aber Spaß beiseite – wie ist die Lage hierzulande? Zunächst einmal basieren die Grundsätze auf den gesetzlichen Rahmenbedingungen, wie sie vornehmlich im deutschen Aktienrecht geregelt sind. Als Folge der internationalen Debatte um Corporate Governance hat eine Regierungskommission unter Vorsitz von Dr. Gerhard Cromme, dem Vorsitzenden des Aufsichtsrates von ThyssenKrupp, im Februar 2002 einheitliche Grundsätze für deutsche Unternehmen formuliert. Dieser deutsche CorporateGovernanceKodex wurde im Jahr 2003 sowie im Juni 2005 erweitert. Wie sieht die Umsetzung dieser Empfehlungen aus? Bisher wurden lediglich fünf der insgesamt 101 Kodexregelungen nicht von einer klaren Mehrheit akzeptiert – und dabei handelt es sich um relativ simple Dinge. In seiner jährlichen Untersuchung über die Akzeptanz der angenommenen Regelungen hat Professor Axel von Werder festgestellt, dass 79 der 82 Empfehlungen und 16 der 19 Anregungen des Kodex von den Gesellschaften im DAX befolgt werden. Und auch bei MDAX, TecDAX und SDAX fällt das Ergebnis nicht wesentlich schlechter aus. Das ist schon einmal ein gutes Ergebnis. Wenn man allerdings die öffentliche Diskussion in Deutschland verfolgt, könnte man glauben, es gehe allein um die Offenlegung der Vorstandsgehälter – als wäre das das größte Problem. Diese Debatte führt aber auf ein falsches Gleis – entscheidend sind andere Fragen.
Grundsätzlich meine ich, dass die Umsetzung von Corporate Governance ein Prozess ist. Aber ich bin der festen Überzeugung, dass der Kodex, so wie er heute existiert, noch nicht abschließend definiert ist. Er wird sich weiter entwickeln. Das heißt, es ist nicht mit einer einmaligen Aktivität der Cromme-Kommission getan. Vielmehr sind die Begleitung und die Weiterentwicklung der Corporate Governance in Deutschland ein laufender Prozess auch im internationalen Wettbewerb. Wenn wir hier stehen bleiben, geraten wir ins Hintertreffen. Das gilt auch rückblickend: Wenn wir die Deutschland AG weiter hätten bestehen lassen, dann hätte das die Wettbewerbskraft an diesem Wirtschaftsstandort nachhaltig negativ beeinflusst. Denn es geht nicht um die Optimierung von Seilschaften und das Eigeninteresse von Repräsentanten dieser Seilschaften, sondern es geht um die professionelle Begleitung und Kontrolle von anvertrauten Aktionärsvermögen oder Familienvermögen. Die Corporate Governance bietet die Chance zu einer Stärkung des Standorts Deutschland und seiner Wettbewerbsfähigkeit.
Die Ausgangslage ist dabei das dualistische Prinzip von Vorstand und Aufsichtsrat. Hierin liegt zugleich eine Schwierigkeit: Wenn Sie mit ausländischen angelsächsischen Investoren sprechen und versuchen, Kapital und Investitionen nach Deutschland zu lenken, dann tauchen schnell Fragen auf – und sie betreffen nicht die Konjunktur. Deren größtes Problem ist zu verstehen, was Mitbestimmung heißt.
Man muss nur einmal versucht haben, einem ausländischen Investor das zweistufige deutsche System angereichert um den Aspekt Mitbestimmung zu erklären. Das zweistufige System können die Investoren noch nachvollziehen. Sie sagen: „Ach, das sind eure Nonexecutive Directors. Die habt ihr also separat da sitzen.“ Da sagen wir: „Ja, im Prinzip. So ähnlich kann man das sagen.“ Dann sagen die aber: „Was machen denn da die Arbeitnehmervertreter?“ Darauf antworte ich aus meiner Erfahrung heraus: Wenn die Corporate Governance richtig gemanagt wird, dann ist die Mitbestimmung ein Segen. Wenn die Mitbestimmung aber benutzt wird, um Vorstands- und Vorstandsvorsitzenden-Mandatsverlängerungs-Fragen zu thematisieren, dann sind wir auf der Ebene tariflicher Verhandlungen und nicht mehr beim Thema Corporate Governance.
Die Frage ist also: Wie können wir eine professionelle Corporate Governance unter Berücksichtigung der Mitbestimmung entwickeln? Denn es wäre falsch, die Mitbestimmung in Frage zu stellen. Sie hat ihre Vorteile, nur muss sie so gestaltet werden, dass das Ergebnis dem Wohle des gesamten Unternehmens dient. Die gängige Praxis bei mitbestimmten Unternehmen entspricht dem derzeit nicht. Da gibt es Vorbesprechungen der Arbeitnehmerseite und es gibt Vorbesprechungen der Kapitalseite. Wenn dann beide Seiten zusammentreffen, sind sie schon vorgebrieft und kommen entweder mit einem Konsens oder mit einem Dissens in die Sitzung. Weil aber jeder weiß, dass ein Dissens nicht gut für das Unternehmen ist, hat man vorher schon den Kompromiss auf dem kleinsten gemeinsamen Nenner definiert. Ist das gut? Ist das professionell? Ist das im Interesse der besten Entscheidung für das Unternehmen? Nein.
Nach meiner Überzeugung müssen wir gerade bei der Auswahl und BefähiIm Filz der Deutschland AG. gung des Aufsichtsrats in Deutschland viel mehr tun als bisher. Ausländische Investoren haben mittlerweile viel Zutrauen in die Zukunft der deutschen Unternehmen gewonnen. Doch vor einem graut es ihnen: den ineffektiven, intransparenten und aufgeblähten Kontrollgremien. Die entscheidende Frage der Corporate Governance in Deutschland betrifft vor allem die Effizienz und Unabhängigkeit von Aufsichtsratsmitgliedern. Das ist ein ganz wichtiges Thema! Nach meiner Erfahrung sind die Aufsichtsratsmitglieder im angelsächsischen System deutlich – auch wirtschaftlich gesehen – unabhängiger als im deutschen System. Und für die Wahrnehmung eines Mandats ist es entscheidend, dass man in jeder Hinsicht unabhängig ist. Es kann nicht sein, dass ein Aufsichtsrat befürchtet, einen Großauftrag zu verlieren, wenn er kritisch das Wort erhebt.
Früher, zu Zeiten der Deutschland AG, wurden Aufsichtsratsmandate zur Absicherung gemeinsamer Interessen verteilt: So wurden Machtverhältnisse durch eine ÜberKreuzVerflechtung der Konzerne wirkungsvoll abgesichert. Entsprechend war die Atmosphäre bei derartig zusammengesetzten Gremien von gegenseitiger Wertschätzung, aber kaum von kritischem Hinterfragen geprägt. Heute wird diese Praxis nicht mehr unhinterfragt hingenommen. Interessenkonflikte von Aufsichtsratsmitgliedern sind zum Thema geworden.
So hat die Besetzung des Kontrollgremiums bei Volkswagen nach der Beteiligung des Sportwagenherstellers Porsche für heftige Kritik gesorgt. Gerhard Cromme hat daraufhin sein Mandat als Aufsichtsrat von Volkswagen zur Verfügung gestellt. Und die Deutsche Post hat einem Aufsichtsrat nahegegegt, aufgrund der gleichzeitigen Mitgliedschaft im Kontrollgremium eines Konkurrenzunternehmens sein Mandat niederzulegen. Noch sind das Ausnahmen, doch Corporate Governance wird mehr und mehr zum Thema.
Zunehmend kaufen ausländische Investoren um PrivateEquityGesellschaften Beteiligungen bei deutschen Unternehmen und treten in Folge mit Kritik an der Praxis der Unternehmensführung auf den Plan – diese bezieht sich nicht nur auf personell überbesetzte Gremien, auf eine ineffiziente Arbeitskultur und die Inkompetenz einzelner Mitglieder, sondern betrifft die Einhaltung von Standards guter Corporate Governance insgesamt. Die Forderung lautet vor
allem: „Lasst uns die Gremien kleiner machen!“ Ich denke, dass dies auch unter Wahrung der Mitbestimmungsgegebenheiten möglich sein sollte. Doch stößt diese Forderung sehr schnell auf Betroffenheit. Betroffenheit natürlich bei den Vertretern der Arbeitnehmer, die einen nicht ganz unwichtigen Teil ihres Einkommens verlieren würden – nicht zu reden von dem Prestige, in einem wichtigen Kontrollgremium zu sitzen und einen Informationsvorsprung zu haben. Doch der Arbeit dieser Gremien tun diese personell aufgeblähten Gremien überhaupt nicht gut.
Ich meine, dass dieses Problem angepackt werden muss. Ein Gremium mit deutlich über 20 Mitgliedern ist nicht führbar und auch nicht handlungsfähig. Ich meine ferner, dass die bisherige Praxis, wonach der Vorstandsvorsitzende nach Erreichen der Pensionsgrenze wie selbstverständlich in den Aufsichtsrat wechselt und dort nicht selten den Vorsitz übernimmt, nicht weiterverfolgt werden sollte. Zumindest sollte dies nicht die Regel sein. Natürlich nützt dem Kontrollgremium sein Wissen. Aber im Zweifelsfall hat der Vorgänger kein Interesse, dass die Fehler in der von ihm zu verantwortenden Vergangenheit aufgedeckt oder korrigiert werden. Und wichtiger noch: Er steht einem manchmal notwendigen Wandel – gewollt oder ungewollt – im Wege.
Das führt zu einem Problem, das immer deutlicher zutage tritt: Deutsche Aufsichtsratsgremien werden zu alt. Bei vielen Konzernen gleicht der Aufsichtsrat einem Altherrenclub. So wurde der 70jährige Chefkontrolleur eines großen Konzerns vor kurzem von seinen Kollegen gebeten, doch zur Begründung seines Rücktritts nicht die Formulierung „aus Altersgründen“ zu verwenden, denn sonst müssten die meisten ja gleich mitgehen!
Kurzum: Deutschland braucht Kontrolleure, die ihre Aufgabe nicht als Ehrenamt verstehen, sondern als professionelle Aufgabe, die zukünftig maßgeblich bestimmt, wie es mit der Unternehmenskultur hierzulande aussieht. Ein wichtiges Anliegen ist es, die Corporate Governance auch in Familienunternehmen durchzusetzen. Gerade in diesem für Deutschland so prägenden Unternehmenstyp kommt es durch den Einstieg von Private-Equitiy-Gesellschaften und ausländischen Investoren zu großen Veränderungen. Dabei geht es auch um Fragen wie die Sicherstellung ausreichender Transparenz nach innen und außen, um die Rekrutierung qualifizierten Führungsnachwuchses, die Regelung der Unternehmensnachfolge und den Interessenausgleich zwischen den im Unternehmen Tätigen und außen stehenden Gesellschaftern.
Auch im Hinblick auf die Unternehmensform gibt es kein Schwarz und Weiß, gilt kein Entwederoder. Das Beispiel BMW zeigt – wie auch die New YorkTimes–, wie ein familiengeführtes Unternehmen eine gute Balance zwischen den Anforderungen des Kapitalmarktes auf der einen und den Interessen der Familie auf der anderen Seite finden kann. Ich halte es sogar für eine ideale Kombination, wenn familiengeführte Unternehmen mit dem Kapitalmarkt in Verbindung treten. Denn auf der einen Seite vertritt die Familie aktiv ihre Interessen, während auf der anderen Seite die Anforderungen des Kapitalmarkts dafür sorgen, dass Disziplin und Professionalität im Unternehmen herrschen. Insofern glaube ich, dass die in Deutschland so starke Form des Familienunternehmens und der Kapitalmarkt keinen Widerspruch darstellen.
Voraussetzung ist freilich, dass das Management von Familienunternehmen einer guten Corporate Governance folgt. Das bedeutet erstens mehr Transparenz bei den Unternehmensstrukturen, zweitens keine bevorzugte Behandlung von Familienmitgliedern bei Anstellungsverträgen oder sonstigen Vertragsbeziehungen und drittens eine verbindliche Altersregelung, die das Ausscheiden des Geschäftsführers bei Erreichen der Altersgrenze erzwingt. Wenn das gewährleistet ist, haben Familienunternehmen eine gute Zukunft in der deutschen Wirtschaft, wahrscheinlich sogar einen Vorteil gegenüber Großkonzernen. Denn im schärfer werdenden Wettbewerb um High Potentials, um die besten Talente am Arbeitsmarkt, werden in der Zukunft Private-Equity-Investoren in Familienunternehmen im Vergleich zu Konzernen die attraktiveren Arbeitsplätze bieten können. Denn hier gibt es mehr unternehmerische Freiheitsgrade und deutlich höheres unternehmerisches Vergütungspotential.
Dr.ThomasMiddelhoff ist Vorsitzender des Vorstands der KarstadtQuelle AG.
Der Beitrag ist zuerst erschienen auf www.changeX.de
Abdruck mit freundlicher Genehmigung der KarstadtQuelle AG